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Foto: Andreas Jakwerth
Wilder Wald

Das Reichraminger Hintergebirge

• 17. Juni 2016
5 Min. Lesezeit

Der höchste Gipfel im Reichraminger Hintergebirge heißt zwar „Großer Größtenberg“, aber eigentlich zählen hier die kleinen Dinge. Bunte Schmetterlinge, seltene Käfer und das Gefühl von Wildnis in den letzten Urwäldern Österreichs.

Mara Simperler für das Bergwelten-Magazin Herbst 2015

Plötzlich ist man mittendrin. Er ist ganz unbemerkt passiert, der Eintritt in die Wildnis. Irgendwann ist der Handyempfang weg, dafür liegen auf einmal moosbewachsene Baumstämme mitten am Weg. Das Geräusch der Schritte wird gedämpft durch den weichen Waldboden.

Nur wo das Laub schon gefallen ist, da raschelt es. Sonnenstrahlen durchbrechen das dichte Blätterdach, hie und da erhebt sich ein weißer Felsen aus dem satten Grün. Das Reichraminger Hintergebirge in Oberösterreich ist ein Ort, den die Natur sich stetig zurückerobert. Seit hier 1997 der Nationalpark Kalkalpen gegründet wurde, wird ein Großteil des Gebiets nicht mehr gepflegt, damit sich ein möglichst ursprünglicher Naturraum entwickeln kann.

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Das Hintergebirge ist wie gemacht dafür. Die Schluchten und Berghänge waren immer schon schwer zugänglich, und so haben sich letzte Reste von Urwald erhalten.

Wildnis in Miniaturgröße

Früher mühten sich Holzarbeiter durch die engen Klammen entlang des Reichramingbachs, heute strampeln Radfahrer auf einer gut ausgebauten Schotterstraße den Fluss entlang. Wer den Hauptweg verlässt, findet sich aber sofort auf verlassenen Steigen wieder, die sich um Baumstämme herumwinden – und manchmal auch über solche hinweg.

Der Fels ist hier nur ein Nebendarsteller. Der eigentliche Star ist der Wald. Bekannt ist das Hintergebirge für den wiederangesiedelten Luchs. Doch die Wildnis krabbelt und fliegt permanent in Miniaturgröße über das wettergegerbte Holz. Urwaldreliktarten wie der Alpenbock und der Scharlachkäfer, perfekt getarnte Laubfrösche und in der Luft – als bunte Farbtupfer – unzählige Schmetterlinge.

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Die Wege sind oftmals mit umgefallenen Baumstämmen verlegt.
Foto: Andreas Jakwerth
Wer durch den Urwald geht, muss sich auch einmal unter alten Baumstämmen hindurchducken.

Über 1.500 Schmetterlingsarten gibt es hier, mehr als irgendwo sonst in Österreich. Erich Weigand hat ihnen ein ganzes Buch gewidmet. Er ist Biologe und studiert seit Jahren die Bewohner des Waldes. Das hat zur Folge, dass ein kurzer Weg mit ihm schon einmal eine ganze Stunde dauern kann, denn ständig gibt es etwas zu entdecken.

Erich Weigand weiß auf beinahe jede Frage eine Antwort. Welcher Schmetterling ist das? – „Ein Roter Apollo.“ Welchen Berg sehen wir da hinten? – „Den Wasserklotz.“ Und warum kommt man ins Reichraminger Hintergebirge? „Hierher kommt, wer die Natur liebt. Für den Berggeher, der nur auf den Gipfel spitzt, ist das Hintergebirge nicht interessant.“

Dabei gibt es auch hier luftige Aussichtspunkte: Vom Alpstein etwa blickt man bis in das Sengsengebirge im Westen, gegen Süden erheben sich die mächtigen Felsrücken des Gesäuses. Und der höchste Gipfel des Reichraminger Hintergebirges heißt tatsächlich Großer Größtenberg (und ist 1.724 m hoch).

Geheime Wege und alte Pfade

Es ist eine Gegend, in der zwar jeder einen Geheimtipp für eine Tour hat, aber nie ohne den Nachsatz: „Das ist aber kein offizieller Weg.“ Das macht nichts, denn auch auf den ausgeschilderten Wanderwegen kann man stundenlang Berghänge entlangwandern, ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Und um auf die geheimen Pfade zu gelangen, begleitet man eben einen Ranger des Nationalparks.

Iris Egelseer ist Rangerin, hat selbst schon den ganzen Nationalpark zu Fuß durchquert und dann ein Buch über das Wildniswandern geschrieben. Besonders prägend empfand sie die Nächte, die sie mit dem Zelt in der Natur verbracht hat. Unter Tags hat sie eine Wandergruppe begleitet, jetzt sitzt die junge Frau auf einem Baumstamm am Biwakplatz Weißwasser, das Gesicht erhellt vom Schein des Lagerfeuers.

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Blick in den Nationalpark Kalkalpen.
Foto: Andreas Jakwerth
Blick in die wilden Wälder des Reichraminger Hintergebirges.

„Es ist schön, zu sehen, dass hier noch Platz für die Wildnis ist. Dass ein alter Baum einen Wert bekommt, ohne dass er geschlägert wird. Aber an diese Unordnung muss man sich auch erst einmal gewöhnen“, sagt sie. Iris Egelseer war ursprünglich Hauptschullehrerin, ging dann als Au-pair in die USA und begann in der Ferne die Geschichte ihrer Heimat zu erforschen.

Die erzählt sie auch gern weiter – diese Eigenschaft der Lehrerinnenseele wird man wohl auch nach Jahren nicht los: „In Weißwasser, wo wir gerade sitzen, wurde früher Bauxit abgebaut, es gab eine Seilbahn, Häuser und Geschäfte. Das kann man sich gar nicht vorstellen.“

Tatsächlich stolpert man immer wieder über Reste ehemaliger Siedlungen, doch sie sind unter Moos, Blättern und Zweigen oft kaum mehr zu sehen. Dabei ist der Nationalpark Kalkalpen relativ jung, noch keine zwanzig Jahre alt. „Man sieht hier ganz gut, wie schnell die Natur wieder ihren Urzustand zurückgewinnt, wenn man sie lässt“, sagt Iris Egelseer.

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Auf zwei Rädern

Auch Bernhard Huber ist einer, der ausgezogen ist, um zurückzukehren. Der gebürtige Mollner entdeckte in den Dolomiten die Liebe zum Mountainbiken und zog zurück an den Rand des Nationalparks, um seine Begeisterung als Rad-Guide weiterzugeben. Der 39-Jährige ist blond, braun gebrannt und führt den flotten Spruch eines Skilehrers, was wohl daran liegt, dass er im Winter am Arlberg genau diesem Beruf nachgeht.

Wobei, bei Bernhard Huber möchte man da fast schon von einer Berufung sprechen. „Für mich ist immer der Sport an erster Stelle gestanden“, erzählt er, während er einen Forstweg scheinbar mühelos hinauftritt. Am Wochenende führt er Gruppen mit dem Rad durch das Hintergebirge, an seinen freien Tagen fährt er ebenfalls hier. Nur etwas schneller.

Eine Mountainbikerin radelt auf den historischen Forststraßen des Nationalparks.
Foto: Andreas Jakwerth
Wo einst eine Waldbahn das Holz aus dem Hintergebirge transportierte, radeln heute Besucher. Und freuen sich über die alten Tunnelstrukturen.

„Es kann schon passieren, dass ich völlig allein durch den Wald fahre. Deshalb komme ich immer wieder hierher zurück“, sagt er. Dass wenig los ist, erzählen hier alle, mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz. Auch Bernhard Huber meint: „Das Gebiet ist nicht hochalpin und dadurch für viele Menschen zugänglich.“

Seit einigen Jahren erkunden immer mehr Menschen mit dem E-Bike die Gegend. Da kann es dann sogar passieren, dass der Mountainbike-Guide hinter einem Hobbyradler zurückbleibt.

Donner und Blitz

Das Herz des Hintergebirges mag zwar der Reichramingbach sein, seine Seele offenbart sich aber am Begsteigersteig. Hier klettert man über riesige Baumstämme, quert mäandernde Bäche und stapft durch hüfthohe Wiesen. Dass einem mitunter Brombeerstauden die Beine zerkratzen, verzeiht man der fruchtigen Wegzehrung gern. Außerdem trägt man so einen Beweis für die Wildnis mit nach Hause.

Womit würde Anneliese Spannring, die Sennerin der Ebenforstalm, auch sonst ihren selbst gemachten Topfenstrudel servieren? Apropos Topfen, auf dem Holzofen stehen Bottiche voll mit Milch. Nur die Wärme sorgt dafür, dass sie gerinnt. „Kein Lab“, stellt Anneliese Spannring bestimmt klar und dreht die Behälter, damit die Temperatur an jeder Stelle gleich bleibt.

Gelernt hat sie das von ihrer Mutter, und verlernt hat sie es auch nach Jahren im Ausland nicht: „Was du mit Leidenschaft machst, vergisst du nicht.“ Anneliese Spannring feiert in diesem Herbst gleich drei Jubiläen: ihren 70. Geburtstag, die goldene Hochzeit mit ihrem Mann Othmar und dass sie seit ihrer Pensionierung vor 15 Jahren auf der Alm ist.

„Ich habe immer gesagt, in der Pension gehe ich auf die Alm. Also habe ich mir eine Schwalbe auf den rechten Busen tätowieren lassen, denn Schwalben bringen Glück, und dann war ich praktisch schon heroben.“ Als Sennerin stellt Anneliese fast alles, was sie serviert, selbst her.

Sogar das Fleisch selcht sie. Die Almschweine Euf und Nöff hätten bezeichnenderweise eigentlich Knacker und Schnitzel heißen sollen, das war Annelieses Mann Othmar dann aber doch zu viel.  Strom gibt es keinen auf der Ebenforstalm, dafür wird diese Nacht hell erleuchtet von den Blitzen eines vorbeiziehenden Gewitters.

Und wenn man gut geschützt auf die umliegenden Berge und auf die Wälder blickt, wünscht man sich, das Gewitter möge doch noch einen Tag dauern. Oder man möge sich auf dem Heimweg nur ein kleines bisschen in der Wildnis verirren. Hauptsache, man müsste sie nicht so schnell wieder hinter sich lassen.

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