Wilder Wald
Foto: Oberösterreich Tourismus / Max Mauthner
Der Nationalpark Kalkalpen schützt die letzte große Waldwildnis Österreichs. Und das seit mittlerweile 25 Jahren. Er ist das einzige UNESCO-Weltnaturerbe des Landes und unverzichtbare Lebensgrundlage für tausende Tier- und Pflanzenarten. Was das bedeutet, erfährt man hautnah, wenn man mit einem Nationalpark-Ranger durch Moos und Totholz stapft.
Bericht: Nicole Kolisch
Totholz bedeutet Leben. Das lässt sich in Zahlen belegen: von ca. 7.400 Käferarten in Österreich zählen 1.500 zu den holzbewohnenden (sogenannten „xylobionten”) Käfern, sprich: Sie sind in irgendeiner Phase ihres Lebens auf totes Holz angewiesen. Aber auch Pilze, Moose und sogar Kleinsäuger leben am, im oder vom toten Baum.
„Interessant“, denke ich, während ich in einer Totholz-Broschüre der Österreichischen Bundesforste blättere. Für mich (= ignorantes Stadtkind) war „toter Baum“ maximal ein Abfallprodukt des Waldes, etwas, das da halt rumliegt und das man besser aus dem Weg schaffen sollte, damit Gelegenheitsbesucherinnen wie ich beim Waldspaziergang nicht drüber stolpern.
Lebensraum Totholz
Aber Wegräumen ist, wie ich hier lese, der komplett falsche Gedanke: Um das Überleben der Totholzbewohner zu sichern, werden aus ökologischer Sicht mindestens 20 Kubikmeter Totholz pro Hektar Wald angestrebt. In urwald-ähnlichen Reservaten finden wir 50 Kubikmeter pro Hektar und – auch das ist wichtig – mehr stehendes als liegendes Totholz.
„Liegendes Totholz ist im Winter rasch einmal unter einer Schneedecke versteckt”, erklärt Bernhard Sulzbacher, Ranger im Nationalpark Kalkalpen, „dann können etwa der Specht und die Holzwespe kein Futter mehr drin finden.”
Im Gegensatz dazu ist im stehenden Totholz das Buffet nicht saisonal gesperrt. Altes und neues Leben speist sich daraus. Bernhard Sulzbacher spricht vom „Totholz-Zyklus”, der eben dann funktioniert, wenn man nicht „wegräumt”, sondern liegen lässt.
„Im Nationalpark darf das sein”, sagt er. Und ich bin sehr froh, dass ich meine Marie-Kondo-Überlegung für den Wald zuvor nur gedacht, nicht laut ausgesprochen hatte…
Totholz ist, wenn man so will, der absolute USP des Nationalparks Kalkalpen und es ist (man möge diesen furchtbar schlechten Witz verzeihen) Bernhard Sulzbachers Steckenpferd.
Wir sind mit dem sympathischen Ranger unterwegs zur Bärenriedlau, einer historischen Jagdhütte auf 1.334 Metern Seehöhe, die nicht nur durch ihr Habsburger Erbe, sondern auch mit einem der schönsten Aussichtsplätze im südlichen Sengsengebirge punktet.
„Ich sag’s gleich: Ich werde reden wie ein Wasserfall”, hat Bernhard Sulzbacher uns vorgewarnt – um dann dennoch zu verstummen als wir den Wald, „seinen” Wald, betreten. Denn die Bäume, darunter einige echte Methusalems, ringen auch den gesprächigsten Besuchern Respekt ab. Außerdem: Man will nicht verscheuchen, was man beobachten könnte. Gämsen, Dreizehenspecht – vielleicht sogar ein Luchs?
Wir stapfen also mit offenen Augen und geschlossenen Mündern über Trittsteine durch grünes Koboldmoos und wilde Heidelbeerstauden. Ich liebäugle mit dem Gedanken an Marmelade-Einkochen. Aber als Mensch ins Nationalpark-Geschehen einzugreifen, ist natürlich ein No-Go. (Außerdem müsste ich dann mehr schleppen …)
Stress im Wald
Vor kurzem hat der Wald geblüht, das ist vielerorts sichtbar. Und es ist eine durchaus ambivalente Entwicklung. Früher, so hat uns Nationalparkdirektor Volkhard Maier am Vorabend erklärt, kam es alle fünf bis sieben Jahre zur Waldblüte. Mittlerweile blüht er alle zwei bis drei Jahre. Das bedeutet auch: Der Wald hat Stress. Der Klimawandel geht – no na! – auch an Österreichs Urwäldern nicht spurlos vorüber. Und Fichten versuchen sich zu vermehren, kurz bevor sie sterben.
„Natürlich kann man das so nicht sagen”, relativiert Bernhard Sulzbacher, „Die Fichte weiß ja nicht, wann sie stirbt. Aber irgendein Signal gibt es da offenbar schon. Und Fortpflanzung ist das höchste Ziel in der Natur. Jede Art wird alles tun, um ihren Fortbestand zu sichern.“
Also blüht der Wald. Und für die Fichte ist das mitunter kontraproduktiv. Denn es gibt ja auch noch ihren Gegenspieler, den Borkenkäfer. Im Alltag der Fichte hat sie das im Griff: Es bräuchte eine 400 Käfer starke Armee, um eine Fichte einzunehmen, denn sie leistet mit ihrem Harz Widerstand. Benötigt sie ihre Wasserreserven jedoch für die Baumblüte, bleibt weniger Wasser für die Harzproduktion. Fazit: Das Arsenal ist schlecht bestückt und bereits eine Borkenkäfer-Armee, die zahlenmäßig unterlegen scheint, kann den Baum bezwingen.
1:0 für den Schädling. Und dumm gelaufen für die Fichte, deren Bemühungen um ewiges Leben sie in letzter Konsequenz eben dieses kosten.
Ich bin sicher, in dieser Ungerechtigkeit steckt eine Lebenslehre. Irgendwas semi-buddhistisches.
Ich kann es nur gerade nicht ausformulieren, denn ich bin beschäftigt damit an dem wilden Rosmarin zu schnuppern, den Bernhard Sulzbacher entdeckt hat und uns unter die Nase hält.
Berauschende Rosen und träge Schlangen
Ein Stück aufwärts blühen Almrosen. „Bei uns sagt man Almrausch und als Kind hab ich immer geglaubt, das kommt daher, weil der Wind durch die Blätter rauscht”, sagt Bernhard Sulzbacher. „Aber Almrosen sind leicht giftig. Und die Bezeichnung meint wohl eher den Rausch, den man bekommt, wenn man sie isst.”
Wir stapfen weiter in Richtung Bärenriedlau und der Ranger zeigt uns, wie man den Ruf des Spechtes nachahmen kann, wenn man leicht saugend die eigene Handfläche küsst. Dann sagt er, dass man sich vor Kreuzottern um diese Tageszeit nicht fürchten müsse: „Wenn’s warm ist, sind sie flink und verlassen sofort den Weg, sobald wir uns nähern. Nur in der Früh sind sie von der Kälte der Nacht noch ein wenig steif und langsamer – so wie wir das alle kennen, sobald wir über 30 sind.” (Liebe Kreuzotter, denke ich, I feel you …)
Wenn er erzählt, spürt man Bernhard Sulzbachers Begeisterung, seine schier endlose Neugierde auf das Leben in all seiner Vielfalt. Und man kann gar nicht anders als sich plötzlich für dieses oder jenes Loch in einer Rinde zu interessieren. Wer war das? Wie gehören all diese Spuren zusammen?
Ungezähmte Wildnis versus Kulturlandschaft
Ich lerne das schöne Wort „Borkenkäfermanagement“. Und ich lerne, wie wichtig die derart betreuten Borkenkäfer-Puffer-Zonen für gute Nachbarschaftsbeziehungen sind. Beziehungen nämlich mit all jenen Gebieten, die direkt an den Nationalpark angrenzen und die aus wirtschaftlichen Gründen, den Wald nicht einfach Wald sein lassen können. Dafür braucht’s betreute Übergänge zwischen Wildnis und Kulturlandschaft.
Aber die Wildnis, unbetreut und ungezähmt, braucht’s eben genauso. Um sie zu bewahren, aber auch, um sie zu erforschen. Die Kommunikation der Bäume, zum Beispiel. Die ist noch ein Rätsel. Ich muss wieder an den blühenden Wald denken und an das, was uns Nationalparkdirektor Maier darüber erzählt hat: „Wenn der Wald blüht, tut er es überall gleichzeitig. Dann blüht nicht nur dieses Tal, sondern auch das nächste und das übernächste. Als hätten die Bäume ein heimliches Kommunikationssystem. Als würden sie sagen: Auf los geht’s los!”
Da gibt es also vieles, das noch nicht (oder erst wenig) erforscht ist, vieles zu entdecken, jeden Tag aufs Neue: „Es gibt auch immer noch neue Arten, die gefunden werden”, weiß Volkhard Maier, „Wir haben jetzt 1.600 und 1 verschiedene Schmetterlinge im Nationalpark! Bis vor kurzem waren es noch 1.600. Und wenn man ins Prospekt schaut, das vor ein paar Jahren gedruckt wurde, so steht dort noch: 1.560.”
Man sieht: wenn man die Natur nur mal in Ruhe lässt, einfach Natur sein lässt, dann kommen die schon wieder, die Arten… und die besonders fetten Raupen der Schmetterlinge dienen einem Kuckuck als Futter, der andernorts gar keinen Lebensraum mehr hat.
Wo die Uhren langsamer ticken
„Die Natur setzt sich durch”, sagt Bernhard Sulzbacher, „Sie holt sich alles zurück. Das ist gut so.“ Wir sind auf der Bärenriedlau angekommen und der Ranger holt mich aus meinen ausschweifenden Schmetterlingsgedanken zurück. Ob das vor uns jetzt eine „Spanische Flagge” oder ein „Russischer Bär” ist (ja, Schmetterlinge haben komische Namen!) ist in diesem Moment vielleicht gar nicht so wichtig. Denn wir stehen vor dem, was einmal Stallungen für die Pferde des Thronfolgers Franz Ferdinand waren. Hier, hinter der historischen Jagdhütte des glücklosen Habsburgers, haben sich Wurzeln und Moose das Territorium zurückerobert. Man ahnt die Tränke mehr als sie zu sehen. „Gut so“, sagt Bernhard Sulzbacher erneut.
Das Finden und Schützen neuer Arten ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Doch hier im Nationalpark verstreicht die Zeit langsamer. Hier, wo die Bäume Bäume sein dürfen. Hier, wo niemand das Totholz „wegräumt”.
Und wo der Wald eigentlich gar keinen Stress haben müsste… Vielleicht hat er’s einfach noch nicht kapiert, denke ich, vielleicht muss ihm erst jemand sagen: Chill! Alles ist gut.
Das ansässige Rotwild hat's jedenfalls schon gelernt. Es traut sich näher heran, weil es weiß, dass es hier nicht gejagt wird. Und der Wald, denke ich hoffnungsvoll, der wird’s schon noch merken! Was sind schon 25 Jahre im Leben eines Baumes?
Und dafür, dass sich auch der Wald ein bisschen entspannen kann, dafür ist er ja da, der Bernhard Sulzbacher, der ultimative Baumversteher. Wer mit ihm unterwegs ist, kann gar nicht anders, als die Fichte, das Totholz, die Buche und den Weißrückenspecht danach noch ein bisschen lieber zu haben.
Vielleicht spürt er das ja, der Wald. Und entspannt sich.
- Magazin
Telemarken in Bayern