Kalkalpen: Von Urwald und Wildnis
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von Christina Geyer
Er ist der zweitgrößte Nationalpark Österreichs, beherbergt das größte zusammenhängende Waldgebiet des Landes und stellt europaweit eine der letzten Wildnis-Bastionen dar: Der Nationalpark Kalkalpen in den Oberösterreichischen Voralpen ist ein Juwel unter den Naturschutzgebieten. Eine Reportage.
Es gibt Gebiete, die sind einfach zu schade, um in möglichst kurzer Zeit ein Maximum an Höhenmetern zu absolvieren. Der Nationalpark Kalkalpen in den Oberösterreichischen Voralpen ist so ein Gebiet. Hier sollte man aus möglichst viel Zeit ein Maximum an Naturerlebnis herausholen. Immerhin breitet sich in diesem Schutzgebiet das größte zusammenhängende Waldgebiet Österreichs aus. Man findet kaum noch vergleichbare Wildnisflächen in Europa – nämlich 16.000 Hektar, um genau zu sein. Hier darf sich die Natur nach ihren eigenen Gesetzen entwickeln, ganz ohne Zutun des Menschen. Nationalpark-Ranger Hermann Jansesberger ist dieses Gebiet fast so vertraut wie seine Westentasche: „Ja, ich kenne schon viele Winkel hier. Aber die lernt man zum Teil eben auch erst kennen, wenn man sich verläuft.“ Und das schafft man schnell. Einmal vom Weg abgezweigt ist man nämlich schon mittendrin in der Wildnis.
Bäume, so weit das Auge reicht – aber Hermann Jansesberger streift unbeirrt querfeldein weiter. „Ich zeig' euch einen meiner Lieblingsplätze“, sagt er. Das Motto des Nationalparks „Wildnis spüren“ verspricht nicht zu viel: Das Dickicht der Bäume hinterlässt seine Spuren in Form von Kratzern auf der Haut. Man bringt also unter Garantie einen Nachweis aus der Wildnis mit zurück in die Zivilisation. Der Wald lichtet sich, schon tritt Hermann Jansesberger triumphierend auf eine Aussichtsloge mit prachtvollem Blick ins Sengsengebirge, das direkt aus den unterschiedlichen Grün-Schattierungen der Wälder emporschießt.
Hat Hermann Jansesberger sich eben noch über imitierte Vogellaute in ein angeregtes Gespräch mit einem Kuckuck vertieft, packt er jetzt schon wieder ein neues Projekt an und kramt eine futuristisch anmutende Antenne aus seinem Rucksack. Er möchte damit einen Luchs orten. Sechs Exemplare sind hier mittlerweile heimisch. Sie wurden sukzessive im Nationalpark angesiedelt und alle sind mit Peilsendern ausgestattet. So kann man die bedrohten Tiere beobachten – und schützen.
Der erste Luchs kam übrigens freiwillig in die Kalkalpen. Entdeckt wurde er durch Revierförster Walter Stecher, der anfangs gar nicht begeistert von der Gründung des Nationalparks war. Es hat gedauert, bis er sich von seinem rein forstwirtschaftlich geprägten Denken entfernt hat. Im Endeffekt hat er dann zwölf Jahre lang hauptberuflich für den Nationalpark gearbeitet. Aus einem anfänglichen Skeptiker wurde ein leidenschaftlicher Verteidiger des Schutzgebiets. „Ich kenne diesen Wald seit 40 Jahren“, schwärmt er, „und noch nie hat hier so viel gekeimt wie heute.“
209 Quadratkilometer Wald kennzeichnen den Nationalpark, die Vielfalt des Baumbestands ist europaweit einzigartig. Auch Urwaldrestflächen soll es hier noch geben. Als solche gelten Flächen, die nachweislich noch nie wirtschaftlich genutzt worden sind. Man findet auf ihnen unter anderem eine 500 Jahre alte Buche, die älteste bekannte ihrer Art im gesamten Alpenraum. Daneben tummeln sich insgesamt 42 wild wachsende Orchideen-Arten, seltene Farne und Moose und bis zu 200 Gräser und Pflanzen allein auf den Almflächen.
Die Vielfalt endet nicht bei Flora und Fauna. Neben der kleinen Luchs-Population sind in den Kalkalpen auch Auer-, Birk- und Haselhühner heimisch, ein beachtlicher Bestand an Rotwild, Gämsen und Steinadlern, Wanderfalken, Schwarzstörchen und 1.500 Schmetterlingsarten. Man fühlt sich tatsächlich ein bisschen wie in einem brasilianischen Urwald. Überall blüht und grünt es, krabbelt und fliegt es. Hermann Jansesberger hält darum auch an beinahe jedem Baum an, um eine neue Spur zu lesen: Hier eine Fuchs-Losung, dort Kratzspuren vom Dachs. Er pflückt sich ein junges Buchenblatt vom Baum und kaut genüsslich darauf herum: „So schmeckt der Frühling“, sagt er – und entdeckt schon wieder eine neue Fährte. Diesmal sind es Fegespuren vom Geweih eines Hirsches.
Um den Schutz der Artenvielfalt und der Wildnis nicht nur nachhaltig sichern zu können, sondern auch zu erweitern, ist aktuell ein Projekt in Planung, das den Zusammenschluss des Nationalparks Kalkalpen mit dem Wildnisgebiet Dürrenstein und dem Nationalpark Gesäuse vorsieht – und für diese Vision bereits zwei Auszeichnungen erhielt. Der Zusammenschluss läuft unter dem Arbeitstitel „Projekt Naturwald“ und verfolgt grob zusammengefasst drei Ziele. Zum einen soll es sich gegen die Verinselung von Naturschutzgebieten richten, zum anderen eine insgesamt breiter aufgestellte DNA der Artenvielfalt gewährleisten und weiters auch eine Antwort auf den Klimawandel sein. Es ist absehbar, dass viele Arten durch die Erderwärmung sukzessive „nach oben“ in gemäßigtere Temperaturzonen wandern werden. Größere Flächen erschließen ein Mehr an Ausweichmöglichkeiten für die betroffene Vegetation.
Im Nationalpark Kalkalpen beobachtet man bereits jetzt, dass die Wälder zu wandern beginnen – und man ist sich sicher: In spätestens 600 Jahren wird der Hohe Nock (1.963 m) bewaldet sein. „Es stimmt schon nachdenklich, dass es zum Schutz der Natur eigens gewidmete Flächen braucht und die Natur unter eine Käseglocke gestellt werden muss“, sagt Walter Stecher zum „Projekt Naturwald“. Aber er hat über die Jahre ein Grundvertrauen in die Natur und ihre Anpassungsfähigkeit gefasst: „In der Natur gibt es keine Gewinner oder Verlierer. Die bringt sich schon von ganz allein wieder ins Gleichgewicht.“ Zumindest auf den Nationalpark Kalkalpen trifft das voll und ganz zu. Wer daran zweifelt, sollte selbst zu einem Streifzug durch die Wälder der Kalkalpen aufbrechen – und die Wildnis am eigenen Leib spüren.
Tipp
Weitere Informationen rund um den Nationalpark findet ihr unter: Nationalpark Kalkalpen
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