Sind 600.000 Mitglieder ein Druckmittel?
Seit Anfang des Jahres ist Robert Renzler einfaches Mitglied des Alpenvereins. Zuvor war er mehr als 18 Jahre dessen Generalsekretär. Ein Gespräch über den Brenner, über das Recht auf Natur und darüber, wie die Berge ohne alpine Vereine aussehen würden.
Das Interview ist im Bergwelten-Magazin April/Mai 2022 erschienen.
Interview: Klaus Haselböck, Katharina Brunnauer-Lehner
Robert Renzler hat als Generalsekretär des Österreichischen Alpenvereins die Interessen der Natur und der Menschen vertreten, die gerne in den Bergen unterwegs sind. Mit dem Jahreswechsel hat er sich nun in den Ruhestand verabschiedet. Die Bergwelten-Redaktion war ihm immer besonders verbunden, da er die Idee des Magazins von der ersten Stunde an tatkräftig und mit vielen Ideen unterstützt hat. Aus diesem Anlass haben wir ihn zum Gipfelgespräch eingeladen, um in seiner beruflichen Laufbahn zurück und in jener als Bergsteiger nach vorn zu blicken.
Bergwelten: Der Alpenverein sagt von sich selbst, der Anwalt der Berge zu sein. Einen Anwalt braucht man, wenn es Konflikte gibt.
Robert Renzler: Das ist eine griffige Formulierung, aber intern habe ich immer gesagt: Wir sind die Gewerkschaft der Berge und gleichzeitig der Bergsteiger. Ob Jagd, Grundeigentum oder Forst – die verschiedenen Nutzergruppen der Alpen haben starke Lobbys. Wir sind die Lobby für unsere Mitglieder.
Wie sehr haben Konflikte deine Amtszeit als Generalsekretär geprägt?
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Die Natur vor dem überbordenden Erschließungswillen zu schützen war sehr aufreibend, aber auch sehr befriedigend – wenn uns etwas gelungen ist. Ich erinnere mich an den Kampf gegen die Windräder am Brennerbergkamm zwischen 2010 und 2013. Das war sowohl energetisch als auch von der Örtlichkeit her ein sinnloses Projekt. Deren Bau haben wir letztlich verhindern können.
Hatte das etwas damit zu tun, dass du vom Brenner bist?
Das gebe ich zu, das sind meine Heimatberge. Das war nicht ganz uneigennützig.
Aber wenn nicht von Windrädern, woher soll unsere Energie dann kommen?
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Bevor ich nachdenke, von wo ich neue Energie herbringe, sollten wir alle Potenziale ausnützen, um Energie einzusparen. Denn die einzige grüne Kilowattstunde ist die eingesparte. Wenn ich wo ein Windrad aufstellen will, muss ich eine Straße hinbauen. Die hat fast Autobahndimensionen in den Kehren, und die muss gewartet werden. Dann müssen die Windräder gebaut werden. Jene für den Brenner wären in Indien gemacht und dann herübergeschifft worden. Und nach zwanzig Jahren ist die Lebensdauer abgelaufen. Das heißt, die gewonnene Energie ist bei weitem nicht so groß wie die eingesetzte. Wasserkraft und Windkraft beginnen nicht bei null. Wenn ich sehe, wie der Verkehr am Brennerpass gestiegen ist – und Verkehr ist ein Beispiel für schlecht eingesetzte Energie –, dann führt sich die Diskussion, ob da oben Windräder stehen sollen, ad absurdum.
Sind Konflikte etwas Positives?
Grundsätzlich ist der Konflikt nichts Schlechtes. Er wird aber schlecht, wenn er nicht mehr faktenbasierend ist. Das ist nicht erst seit Trump so, sondern das hat sich auch schon vorher abgezeichnet: Schon ein Jean-Claude Juncker ist als EU-Kommissionspräsident mit den Worten angetreten, dass man lügen muss, wenn es ernst wird.
Hast du das auch außerhalb der Weltpolitik beobachtet?
Es hat sich eingeschlichen, dass die Leute eine Behauptung aufstellen, die man durchaus mit Gutachten widerlegen kann, aber dass sie trotzdem dabeibleiben. Eine sachliche Diskussion, an der sich die Politik orientieren soll, wird dadurch immer schwieriger. Auch die Politik hat Rückzüge gemacht und hat sich immer mehr daran orientiert, was mehr Stimmen bringt.
Unterstützt die Politik die Interessen der Berge, der alpinen Vereine?
Im Vertrauensindex steht der Alpenverein an erster Stelle, dann kommen die Naturfreunde und dann erst die Arbeiterkammer. Das weiß die Politik auch, und deshalb wird uns generell Wertschätzung entgegengebracht. Wenn es um Einzelprojekte geht – sei es ein neues Skigebiet oder andere Erschließungsmaßnahmen –, dann zählt aber wieder mehr, welche Lobby stärker ist.
Sind 600.000 Mitglieder auch ein politisches Druckmittel?
Wir haben das nie so verwendet, aber indirekt weiß die Politik natürlich, dass viele Menschen emotional hinter den alpinen Vereinen stehen. Als ich 1986 zum Alpenverein gekommen bin, da hatte die SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs; Anm.) 700.000 Mitglieder, und wir hatten 220.000. Jetzt sind wir bei 600.000, und die SPÖ hat unter 200.000. Da sieht man, wie gegenläufig die Entwicklungen sind. Auch der Skiverband stagniert – nur wir haben uns verdreifacht.
Aber ist das wirklich ein Wunsch, alle Menschen in die Berge zu bringen?
Das haben wir in meiner Zeit ganz klar in unserer Werbelinie festgelegt: Unsere Zielgruppe sind die Menschen, die ohnehin in die Berge gehen. Das sind in Österreich 1,2 Millionen. Was wir nie betrieben haben, ist Werbung, um neue Schichten ansprechen.
Wo kann der Kompromiss zwischen Nutzen und Schützen liegen?
Ich glaube, dass die Natur, wenn sie bewusst genutzt wird, sehr viele Menschen verträgt. Andererseits gibt es Zonen, wo wir nichts verloren haben – geschützte Zonen oder Aufforstungsgebiete etwa. Aber in Summe sollten der Berg und die Bergnatur für die Menschen zugänglich bleiben. Wenn ich die Natur nämlich nur noch vom Bildschirm kenne, dann ist das etwas Abstraktes, für das ich mich nie so einsetzen werde. Ich muss selbst draußen unterwegs sein, um zu wissen, wie schön, befriedigend und schützenswert das ist.
Wie würde die Bergwelt aussehen, gäbe es die alpinen Vereine nicht?
Vermutlich wäre es so, dass Wege und Hütten von der Privat- und der Fremdenverkehrsindustrie übernommen worden wären. Dann würden die Hütten anders ausschauen, was die Umweltökologie und die Ausstattung anbelangt. Wenn man Hütten betriebswirtschaftlich – also ohne Förderungen – führen müsste, wären nicht einmal die beliebtesten Hütten rentabel. Wahrscheinlich müsste man auch für die Wegenutzung zahlen. Den Vorschlag habe ich als Generalsekretär mehrfach bekommen vom Tourismus. Da haben wir uns vehement gewehrt – weil wir sagen: Das Recht auf Naturgenuss ist ein Grund- und Menschenrecht. Ich finde, das sollte auch in Österreich ein Verfassungsrecht werden. Das ist ein großes Manko im Unterschied zu Deutschland, Italien und Frankreich.
Hat das Auswirkungen?
Natürlich. Bei uns ist dieses Recht viel weniger wirksam in der Rechtsprechung. In Deutschland ist die Frage, ob man auf bayerischen Pisten mit Tourenski aufsteigen darf, bis zum Obersten Gerichtshof gegangen. Die Pistenhalter haben verloren, weil das Recht auf Naturgenuss in der bayerischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz verankert ist. In Österreich wurde das noch nicht ausjudiziert. Aber ich bin ziemlich sicher, die Tourengeher würden verlieren.
Und wie würden die Berge aussehen, wenn du allein bestimmen könntest?
Dort, wo es schon eine intensive Erschließung gibt, würde ich sie verstärken. Aber ich würde absolut keine Neuerschließungen machen. Der Pitztal-Ötztal-Zusammenschluss liegt ad acta, das war allerdings ein Paradebeispiel, wo über einen Zusammenschluss zwei oder drei neue Geländekammern hätten angegriffen werden sollen. Das ist für mich ein absolutes No-Go in der heutigen Zeit. Ich wäre aber nicht so radikal, einen Rückbau zu verlangen. Wo der Tourismus ist, da hat er seine Berechtigung. Seine wirtschaftliche Bedeutung für die Täler kann man nicht einfach negieren. Die Leute leben zu einem hohen Grad davon.
Verstehst du die andere Seite, die sagt, wir müssen weiter erschließen?
Nein, da habe ich absolut kein Verständnis. Das sind nämlich vorgeschobene Argumente. Wir wissen von den empirischen Daten, dass das Skifahren europaweit schrumpft. Allein vom Markt spricht also nichts dafür. Man redet jetzt vom ostasiatischen Markt, und da frage ich mich: Ist das die Zukunft im Zeichen des Klimawandels, dass ich die Leute aus China für eine Woche zu uns herkarre – noch dazu unter der Voraussetzung, dass der Schnee dann ohnehin nur noch künstlich sein kann?
Wird es in Zukunft mehr Notwendigkeit für solche Diskussionen geben, oder entsteht langsam mehr Bewusstsein für den Naturschutz?
Ich glaube, dass sich global das Bewusstsein und das Wissen durchsetzen, dass wir, was den Klimawandel anbelangt, keinen Spielraum mehr haben. Wenn ich heutzutage am 26. Oktober diesen beschneiten Streifen Piste in Kitzbühel propagiere, dann ist das eine Negativwerbung. Ich glaube, dass solche Diskussionen sich allein schon von den Werbestrategien der Tourismusgebiete her ad absurdum führen. Die werden das in ein paar Jahren nicht mehr machen, da bin ich mir sicher.
Clemens Matt hat deine Nachfolge angetreten. Wird er weniger streiten müssen?
Die Begehrlichkeiten sind groß, und es gibt auch für ihn genug zu tun: einerseits zu verteidigen und andererseits vor der eigenen Haustür zu kehren, was die Aufklärung und die Bewusstseinsbildung der Mitglieder und auch der Nicht-Mitglieder, die in die Berge gehen, anbelangt.
Was ist deine Perspektive für die Zukunft? Bleibst du dem Alpenverein treu?
Ich möchte jetzt einfaches Alpenvereinsmitglied und – solange ich fit bin – ein leidenschaftlicher Bergsteiger sein. Und wenn ein Ehrenamt, dann würde mich eher etwas ganz anderes interessieren. Wenn man als Prfi so lange drinnen war, dann sollte man sich zurückziehen und nicht wie einer der zwei Alten in der „Muppet Show“ vom Balkon aus Zurufe machen.
Zur Person
Robert Renzler, 64, stammt aus Gries am Brenner (Tirol), studierte Altphilologie und ist Bergführer. Als Generalsekretär hat er die Geschichte des Alpenvereins aufarbeiten lassen, Klettern zum Schulsport gemacht, die Versicherung für die Mitglieder eingeführt und mit dem „Future of Mountain Sports“-Kongress Ethikgrundsätze fürs Bergsteigen definiert.