Simon Messner: Ein Leben als Bergbauer
Foto: Matteo Pavana
von Simon Messner
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: über den Selbstversuch einen Hof im Südtiroler Schnalstal zu bewirtschaften.
Ich möchte ehrlich sein: Dass ich mit 32 Jahren Bergbauer sein würde, hätte ich mir nie gedacht. Und ich hatte auch keine Vorstellung, wie hart diese Arbeit ist.
Zu den Fakten: Vor knapp einem Jahr habe ich von meinem Vater einen Hof überschrieben bekommen. Es ist ein kleiner, idyllischer Weiler namens „Oberortl“ – bestehend aus sieben Gebäuden, steilen Wiesen und Weiden. Dazu Almrechte und große Flächen an Wald, die jedoch so steil sind, dass man sie nicht nutzen kann. „Unwirtschaftlich“ – so steht es im Grundbuch. Ein Hof, wie er typisch ist für Südtirol: archaisch, anmutig und dem man als Kenner die harte körperliche Arbeit auf den ersten Blick ansieht. Eine Bewirtschaftung mit Maschinen ist wegen der Steilheit der Flächen nicht immer möglich.
Meine Lebensgefährtin und ich haben allerdings kaum bis gar keine Erfahrungen in der Berglandwirtschaft. Wir sind beide studierte Molekularbiologen (wenn auch mit einer ausgeprägten Leidenschaft für die Berge) und hatten bisher eher mit Labormäusen als mit Weidetieren zu tun. Nach einer längeren Phase des Überlegens haben wir uns trotzdem dafür entschieden. Wir wollten es wenigstens probieren. Seither ist beinahe ein Jahr vergangen. Es war ein Jahr der Umbrüche, des Improvisierens und des Lernens.
Die Bauern auf Juval
Die Bauern auf Juval – jener elegante Hügel am Eingang des Südtiroler Schnalstals – waren immer schon tüchtige Leute. Anton Pichler, der „Schlossbauer Toni“ (†2023), war bis vor kurzem der älteste Bewohner unter ihnen. Im Jahre 1925 auf Juval geboren, hat er beinahe nie seinen Hof verlassen – 97 Jahre lang nicht! Als Kind besaß er nur eine einzige Garderobe und ein einziges Paar Nagelschuhe, die irgendwann viel zu klein geworden waren. Doch wenigstens im Sommer störte ihn das nicht, denn da ging er ohnehin barfuß. Sein Leben lang war Toni auf den Beinen gewesen. Nie in Eile, immerzu konstant, hat er im Rhythmus der Natur gearbeitet und gelebt. Sich unter Tags mal hinzusetzen, um innezuhalten, war damals wie heute eine Illusion: „Gsessn isch men lei ban Essen“ („Gesessen ist man nur beim Essen“), hat mir Toni erzählt.
Wie die meisten Bauern in Südtirol war auch die Familie Pichler arm. Da das Geld für Ochsen fehlte, wurden Kühe vor den Karren gespannt. Nur über einen steilen, mit großen Steinen ausgelegten Weg erreichte man damals das Tal. Eine Straße gab es noch nicht, denn diese wurde erst in den 1980er Jahren fertiggestellt. So ein Leben erscheint mir heute unvorstellbar. Erst der Tourismus brachte mehr und mehr Wohlstand ins Land.
Als Kind hatte ich den Erzählungen von Toni immer gerne zugehört und alles in mich aufgesogen, was dieser kleine faltige Mann mit der blauen Schürze zu berichten hatte. Sein Leben schien so einfach und doch so gänzlich anders zu sein. Wie die meisten von uns war ich in der Stadt aufgewachsen, nur die Sommermonate verbrachten wir als Familie am Hügel von Juval. Somit fehlte mir der Bezug zum Bauerndasein. Da in meiner Familie niemand Bauer war, gab es auch niemanden, der mir dieses Erbe hätte vermitteln können. So lauschte ich den Geschichten von Toni und bald begann ich zu ahnen, dass das umfassende Wissen der Bauern – angereichert mit den Erfahrungen eines entbehrungsreichen Lebens im Zyklus der Natur – der eigentliche Kern unserer Kultur in den Alpen ist. Und ja, im Stillen habe ich die Bauern bewundert. Ich habe sie bewundert für ihre Genügsamkeit, für die Naturverbundenheit und für einen Lebensentwurf, der eigene Bedürfnisse ganz hinten anstellt. Wer arbeitsscheu ist, der ist auf einem Südtiroler Bergbauernhof definitiv fehl am Platz. Wer Karriere machen will, ebenso.
Versuch und Irrtum
Nun sind Anna und ich also selbst Bauern geworden. Seit einigen Monaten halten wir eine kleine Herde Schnalser Bergschafe, die in geselliger Runde mit Walliser Schwarznasen auf unseren Weiden und Wiesen grasen. Zudem leben Esel, Pferde, zeitweise Ziegen und Schweine bei uns am Hof. Wir machen die Holzarbeiten im Winter, bewässern und mähen die Wiesen im Sommer. Da der Hof baufällig ist, müssen wir die Schindeldächer überarbeiten, dazu Zäune flicken und die Bewässerungen sanieren.
Momentan erneuern wir die hofeigenen Ferienwohnungen. Versuch und Irrtum ist unsere Divise. Es vergeht nicht ein Tag, an dem wir nicht im Freien sind. Doch auch das Bauerndasein hat sich verändert: Etwa gleich viel Zeit, wie wir im Freien verbringen, sitzen wir vor unseren Computern. Die sogenannte Moderne hat Einzug gehalten – selbst die abgelegensten Höfe und die ältesten Bauernstuben bleiben vor überbordender Bürokratie nicht verschont. Das ist vielleicht der Umstand, den ich am „Bauersein“ am meisten bedaure.
Uns holt immer wieder die Frage ein, ob wir das alles überhaupt stemmen können, was wir uns mit dem Hof vorgenommen haben. Doch vorerst machen wir weiter – eine gewisse Sturheit ist hilfreich. Und dann fällt mir wieder Toni ein, der alte „Schlossbauer“, der trotz seines unvorstellbar kargen und harten Lebens noch mit 97 Jahren am Hof mitgeholfen hat. Der mit seiner Gelassenheit, seiner Anspruchslosigkeit und der spürbaren Zufriedenheit etwas in mir bewegt hat.
Vielleicht ist dieser Lebensentwurf gar nicht veraltet, sonder vielmehr höchst aktuell? Wir werden es herausfinden.
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Seit Anfang 2022 lest ihr auf bergwelten.com regelmäßig Simons Kolumne. Einmal im Monat erzählt er Geschichten aus seinem Leben als Alpinist und setzt sich mit den großen Themen des Bergsports auseinander. Seine bisherigen Beiträge könnt ihr hier nachlesen:
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