Simon Messner: Wo geht die Reise hin?
Foto: Archiv Simon Messner
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: Wie uns der Klimawandel auch beim Bergsteigen zum Umzudenken zwingt.
Seit einigen Jahren begleitet mich nun schon dieser innere Konflikt und ich bin damit wohl nicht alleine: Unsere Leidenschaft, das Klettern und Bergsteigern, produziert mehr Kohlendioxid und weitere Treibhausgase als uns lieb sein kann.
Laut einer aktuellen Befragung reisen von den 1,4 Millionen Mitgliedern des Deutschen Alpenvereins mehr als siebzig Prozent mit dem Auto an. Da jeder Bergsportler im Schnitt 18 Tagestouren pro Jahr unternimmt sowie fünf bis sechs längere Reisen, um die Berge dieser Welt zu erreichen, summiert sich die zurückgelegte Strecke auf 5.500 Kilometer An- und Abreise jährlich. Das entspricht etwa einem Kohlendioxid-Ausstoß von 540 Kilogramm (im Jahre 2014 waren es noch 345 Kilogramm Kohlendioxid). Aufwendige Expeditionen und Kletterreisen dürften noch deutlich klimaschädlicher sein. Dabei geht es nicht um die Kletterei: Die Anreise ist es, die uns Alpinisten zum Nachdenken anregen sollte.
Diese Kenntnis führt mich unweigerlich in ein Dilemma, denn ich weiß, wie bereichernd das Bergsteigen auf persönlicher Ebene sein kann und wie wichtig es ist, dass wir diese Aktivität in die Zukunft tragen, um sie für die nächsten Generationen zu erhalten. Womöglich ist dieses „nutzlose Tun“ eine der letzten Möglichkeiten, um in unserer Wohlstandsgesellschaft und auf einem bis in den letzten Winkel erschlossenen Planeten tiefe, bleibende Erfahrungen zu machen. Einen direkteren Kontakt zur Natur gibt es praktisch nicht. Die Möglichkeit, ein kleines Abenteuer zu leben, muss erhalten bleiben – selbst, wenn Reisen zukünftig schwieriger wird.
Der Augenöffner
Im Sommer 2021 hatte ich ein Erlebnis, das für mich richtungsweisend war. Mein Freund und Kletterpartner Martin Sieberer und ich waren viele Tausend Kilometer weit in den Karakorum gereist, um einen unbestiegenen Siebentausender zu versuchen. Was wir dabei erlebten, war mehr als ernüchternd: An manchen Tagen lag die Null-Grad-Grenze weit über 7.000 Meter! Wir riskierten viel, um überhaupt den Wandfuß des Berges zu erreichen. Zum Teil versanken wir bis zur Hüfte in einem Gemisch aus Schnee, Eis und Wasser. Dazu waren überall am Gletscher Längs- und Querspalten offen. Nach mehr als einem Monat kehrten wir aus Pakistan zurück: außer Form, ohne Motivation und mehr als desillusioniert. Was hätten wir alles in derselben Zeit bei uns in den Alpen klettern können! Doch wir waren um die halbe Welt gereist, um dort im Zelt zu sitzen.
Zurück in Europa läutete im Oktober eines Abends mein Handy. Martin schlug mir vor zum Matterhorn zu fahren, um die legendäre Bonatti-Route aus dem Jahre 1965 an einem Tag vom Tal aus zu wiederholen. Walter Bonatti, der italienische „Jahrhundert-Bergsteiger“, war in vier Tagen im Winter auf einer neuen Route durch die Nordwand des Matterhorns geklettert und hatte damit sein alpinistisches „Meisterwerk“ vollendet. Das hörte sich zwar gewagt, aber durchaus gut an! Also fuhren wir Ende des Monats per Nachtzug nach Zermatt. Kurz vor vier Uhr morgens verließen wir den warmen Zug und machten in der kalten Morgenluft die ersten Höhenmeter. Erst am mittleren Vormittag erreichten wir den Wandfuß. Eigentlich war es viel zu spät für so eine große Wand. Aber die Bedingungen schienen perfekt, also legten wir los. Um schneller zu sein, kletterten wir ein Drittel der Wand seilfrei.
Müde geworden, wollten wir am Standplatz nach der Schlüsselstelle endlich ein paar Schlucke trinken. Da traf uns die Erkenntnis wie ein Schlag: Die ohnehin schon knappe Flüssigkeit war in unseren Flaschen zu einem Eisklumpen gefroren. Ein bitterer Fehler! Es half nichts, wir mussten weiter – für ein Biwak schien es uns zu steil, zudem hatte es 16 Grad minus. Unsere Kehlen brannten, das Schlucken fiel uns im Laufe des Tages zusehend schwerer. Als es dämmrig wurde, setzten erste Krämpfe ein. Mit Einbruch der Dunkelheit konnten wir uns kaum orientieren. Kurz vor Mitternacht – nach etwa 3.000 Höhenmetern – erreichten wir den Gipfel.
Da standen wir, zitternd, während der Mond schien und ein kalter Wind an unseren ausgelaugten Körpern zerrte. Die Kälte drängte uns weiter, hinunter. Minuten später versagte Martins Stirnlampe. Im seichten Kegel einer verbliebenen Lampe kamen wir wie in Trance – mal abkletternd, mal abseilend – langsam tiefer. Dann standen wir plötzlich vor dem Solvay-Biwak: was für Freude, was für eine Erleichterung! Nach 24 Stunden, in denen wir nonstop in Bewegung gewesen waren, konnten wir uns endlich hinsetzten, durchatmen und ein paar Schlucke trinken.
Was bleibt?
Von so einem Erlebnis bleibt für mich die feste Überzeugung, dass wir, um Alpinismus zu betreiben, nicht zwingend auf das Flugzeug angewiesen sind. Sofern wir unsere Hausberge natürlich erhalten, sprich nicht weiter erschließen und verbauen, sondern vielleicht sogar vorsichtig zurückbauen, um Freiräume zu schaffen. Dann erhalten wir auch das Potential für einprägsame Erfahrungen: die Quintessenz unseres Tuns. Wenn wir die Berge vor unserer Haustüre ursprünglich erhalten, müssen wir vielleicht gar nicht allzu weit weg fahren oder fliegen. Mit der richtigen Eistellung: „weg vom Konsum, hin zum Erlebnis“ lassen sich bei uns in den Alpen noch unzählige kleinere und größere Abenteuer erleben. Das ist ein Gedanke, der durchaus Hoffnung macht!
9 Touren vom Bahnhof aus
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Seit Anfang 2022 lest ihr auf bergwelten.com regelmäßig Simons Kolumne. Einmal im Monat erzählt er Geschichten aus seinem Leben als Alpinist und setzt sich mit den großen Themen des Bergsports auseinander. Seine bisherigen Beiträge könnt ihr hier nachlesen:
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