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Über das Wetter in der Lawine

Sicherheit & Know How

4 Min.

29.01.2022

Foto: Roland Vorlaufer

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Wie schnell sich Prognose und Realität auseinanderentwickeln, warum Schneelagen schwieriger als Wetterlagen zu beurteilen sind und man besser in einer gemischt kompetenten Gruppe auf Skitour geht: der Lawinenforscher Jürg Schweizer im Interview.

Jürg Schweizer, 62, ist weltweit einer der renommiertesten Lawinenforscher. Der Thurgauer studierte Umweltphysik an der ETH Zürich, promovierte 1989 in Glaziologie und hielt sich anschließend zu Studienzwecken in Kanada auf. Seit 2011 leitet Schweizer das Schweizerische Lawinenforschungsinstitut in Davos, daneben hat er einen Lehrauftrag an der ETH Zürich. Das Interview in voller Länge erschien im Bergwelten Magazin (Dezember/Jänner 2018).

Bergwelten: Gehen Sie noch in die Berge, obwohl Sie wissen, wie groß das Lawinenrisiko ist?

Ja, natürlich, sogar sehr häufig. Ohne Skitouren könnte ich nicht sein.

Sie sagten einmal sinngemäß, ab und zu sei ein richtiger „Lawinenwinter“ hilfreich im Umgang mit Lawinen.

Das war etwas unglücklich formuliert, diese Aussage kann man falsch verstehen. Aber es ist halt schon so: Je länger nichts passiert, umso mehr vergisst man, wie nahe das Risiko ist. Das betrifft Skitourengeher wie auch die Verantwortlichen in den Gemeinden und beim Straßendienst. Alle brauchen regelmäßig einen Reality-Check: Wo stehen wir? Sind wir richtig aufgestellt? Gerade bei so seltenen Ereignissen wie Lawinenabgängen ist es wichtig, das gesamte Schutzsystem am Leben zu erhalten. Lawinen sind eine Naturgefahr, mit der wir immer rechnen müssen, das muss uns bewusst sein.

Wann war der letzte Lawinenwinter?

Das ist schon ein paar Jahre her. In den Wintern 1951 und 1999 waren weite Teile des Alpenbogens von außerordentlich vielen und großen Abgängen betroffen. Auch 1968 und 1975 war die Lawinenaktivität groß. Aber es gab auch dieses Jahr Anfang März eine überraschend große Lawinenaktivität, obwohl es gar nicht so starke Niederschläge gab. Der Aufbau der Schneedecke war ungünstig.

Das heißt, große Lawinen gibt es nicht nur bei außerordentlich viel Schnee?

Ja. 1999 war ganz klar die Menge entscheidend, innerhalb weniger Tage fielen bis zu vier Meter Schnee. In einem „normalen“ Winter ist oft der Verlauf des Frühwinters entscheidend: Fällt Ende November Schnee und es bleibt dann länger trocken und kalt, baut sich diese Schneeschicht in „Schwimmschnee“ um, der kaum Verbund hat und bröselig ist. Das ist eine eher ungünstige Basis für den Schnee, der später kommt. Diese Lawinen reißen dann bis zum Boden an, das gibt eine große Masse.

Die größte Katastrophe der letzten Jahre erlebten wir 1999 in Galtür in Tirol mit 31 Todesfällen. Wäre man heute besser darauf vorbereitet?

1999 haben die Verbauungen gut funktioniert. Nur in wenigen Orten, wie in Galtür, kamen die Lawinen bis in den Bereich der Dörfer. In der Schweiz gab es 17 Opfer, im Lawinenwinter 1951 waren es noch 98. Man zieht jedes Mal Lehren: Nach 1951 wurden die Lawinenverbauungen in den Anrissgebieten vorangetrieben, nach 1968 die Gefahrenkarten. Nach 1999 wurde viel investiert in temporäre Maßnahmen wie Ausbildung der Verantwortlichen vor Ort, verbesserte Informationen, künstliche Lawinenauslösung. Wir sind gut vorbereitet, aber im Griff haben wir die Natur nicht.

In den Alpen – ob in der Schweiz oder in Österreich – werden regelmäßig Lawinenberichte mit Gefahrenstufen für jede Region herausgegeben. Besteht die Gefahr, dass dies Skitourengehern eine falsche Sicherheit vorgaukelt?

Das gilt für alle Hilfsmittel, wenn man sich darauf zu sehr verlässt. Ich glaube nicht, dass ohne Berichte weniger passieren würde. Natürlich überlegen wir, wie weit unsere Information gehen soll. Theoretisch kann man so lange ins Detail hineinzoomen, bis der Skifahrer quasi auf den Meter genau sehen kann, wie groß die Lawinengefahr eingeschätzt wird.

Sind Lawinenprognosen weniger präzis als Wettervorhersagen?

Ja, bei der Lawinenprognose spielt die Wetterentwicklung der letzten Wochen und Monate eine Rolle, sie ist in der Schneedecke gespeichert. Jeder Schneefall erzeugt eine Schicht. Je nach Wetter während und zwischen den Schneefällen variiert deren Festigkeit. Entscheidend ist also, wie gut die Stabilität des Altschnees ist und was an Neuschnee hinzukommt. Lawinen reißen häufig in der bestehenden Schneedecke an und nicht im Neuschnee.

Themenwechsel: Wie wirkt sich Gruppendynamik auf das Risikoverhalten von Skitourengehern aus?

Grundsätzlich ist es vorteilhaft, nicht allein auf eine Tour zu gehen, sofern alle wissen, was bei einem Unfall zu tun ist. Wann und wie die Gruppendynamik negativ wirkt, ist schwierig festzulegen, denn es spielen so viele verschiedene soziale Parameter eine Rolle. Sehr wichtig ist die Zusammensetzung: Bringen alle Teilnehmer mehr oder minder die gleichen Voraussetzungen mit, kann es sein, dass nicht über bestimmte Abläufe und Entscheidungen diskutiert wird und die Risikobereitschaft wächst.

Je heterogener die Gruppe, umso besser?

Ja, das kann helfen, ausgewogener zu entscheiden. Wichtige Voraussetzung ist aber in jeder Gruppe eine gute Kommunikation über Erwartungen, Ziele und Risiken.

Wie wird sich die Lawinensituation im Alpenraum entwickeln, wenn sich das Klima weiter erwärmt?

Das ist schwierig zu sagen. Sicher nimmt die Dauer und Mächtigkeit der Schneedecke in mittleren Lagen weiter ab. Für die Lawinengefahr sind aber weniger die Mittelwerte der Lufttemperatur entscheidend als die Extreme des Niederschlags. Stark vereinfacht: Der Lawine ist das Klima egal, entscheidend ist das Wetter.

Werden die Niederschläge zunehmen?

Es gibt diese Klimaszenarien, dass es gerade im Winter etwas mehr Niederschlag geben könnte. Auf 1.500 Metern wird es dann oft Regen sein, aber die typischen Lawinenanriss-Gebiete in den Alpen sind auf 2.500 Metern und höher. Die Frage ist: Werden wir weiterhin die typischen Niederschlagsmuster haben mit vor allem feuchter und relativ kalter Luft aus Nordwesten? Denn das ist die typische Wetterlage, bei der es auf der Alpennordseite intensiv schneit – und dann dürfte es wohl weiter große Lawinen geben, die unter anderem Verkehrswege bedrohen. Für Skifahrer gibt es ohnehin keine Entwarnung, da bei generell weniger Schnee der Schneedeckenaufbau häufig schlechter ist – und der Altschnee ist das Lawinenproblem Nummer eins.

Interview: Christian Andiel