Simon Messner: Vom Umdrehen kurz vor dem Gipfel
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: Warum der Rückzug aus der Nordwand der Königsspitze ein Erfolg sein kann.
Ich habe am Berg oft umgedreht. Sei es des Wetters wegen oder weil wir schlicht und einfach falsch geplant hatten. Weil es uns zu schwierig wurde, wir es zu kalt hatten oder weil wir nicht gut in der Zeit lagen und nicht biwakieren wollten. In den kalten Monaten sind es heute oft die ungenügenden Schnee- und Eisauflagen, die einen zum Umkehren zwingen. Das permanente Eis der Alpen schwindet, so auch der Permafrost. Zurück bleiben zum Teil unüberwindbare Randspalten, wenig bis gar kein Eis, zu viel ungebundener Schnee sowie ein erhöhtes bis sehr hohes Risiko für Fels- und Eisschlag in der Wand. Die richtige Zeitspanne zu erwischen, um einige der großen Wände in den Alpen klettern zu können, ist teils zu einem Husarenstück geworden. Zuletzt habe ich das gemeinsam mit Thomas in den Südalpen erlebt.
Aus der Praxis
Thomas und sein Bruder Daniel betreiben das Restaurant „Yak & Yeti“ in Sulden am Ortler. Somit sehen die zwei fleißigen Burschen die Nordwände von Ortler, Zebru und Königsspitze alle Tage vor sich in den Himmel ragen – ein Anblick, der träumen lässt.
Ich wusste, dass sich Thomas seit einigen Jahren für den Alpinismus interessiert und den einen oder anderen Eisfall in und um Sulden schon geklettert war. Und ich wusste, dass Thomas die Wände um Sulden gerne mit dem Fernglas studiert. Also bat ich ihn um ein Foto der Königsspitze Nordwand. Darauf waren verschiedenste Eislinien gut zu erkennen.
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Aber Eislinien im Oktober? Das wollte ich mir anschauen, nein: Das musste ich mir anschauen! Denn in Bergsteigerkreisen gilt die klassische Nordwand (erstbegangen 1930 durch H. Brehm & H. Ertl) als „nicht mehr machbar“, da sie viel zu brüchig ist. Auf dem Foto war Eis in der Wand gut zu erkennen. Das könnte ein Hinweis sein, dass die Linie momentan doch kletterbar ist. Um das herauszufinden, mussten wir uns ein eigenes Bild der Umstände machen. Also verabredeten wir uns für einen frühen Aufbruch in zwei Tagen ab Sulden.
Große Spalten, steiles Eis
Der Zustieg lief wie am Schnürchen. Das Wetter passte, der Schnee in der Rampe, die uns bis zum großen Gletscherbecken führte, war trittfest. Bedingungen wie zu Hans Ertls Zeiten! Sobald wir jedoch den kesselförmigen Gletscher durchquert hatten und an den Fuß der Wand kamen – dabei mussten wir großen Querspalten ausweichen und steile Eisaufschwünge überklettern – änderten sich die Bedingungen schlagartig: Pulvriger Schnee und eine fragile Eisauflage zwangen uns zur Vorsicht. Nach einem ersten Versuch entschieden wir uns für eine Variante weiter links. Auch hier waren die Bedingungen heikel, der Fels mehr als instabil und die Eisauflage dünn – so, wie uns von mehreren Bergsteigern berichtet wurde. Wir kamen nur im Schneckentempo voran.
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Es mussten Stunden vergangen sein, bis ich endlich die letzte schwere Seillänge hinter mir hatte und am Anfang jenes breiten Schneefeldes stand, welches uns ohne größere Hindernisse bis zum Gipfel der Königsspitze führen sollte. Das Schwerste lag also hinter uns! Doch was dann geschah, änderte alles: Ich sicherte den nachsteigenden und wohl etwas überforderten Thomas – dabei sah ich uns in Gedanken bereits am Gipfel aussteigen – als ich plötzlich einen dumpfen Schrei hörte. Im selben Moment straffte sich das Seil, welches sich tief in den Schnee vor mir fraß. Der große Block, um den ich eine Schlinge gelegt hatte, bewegte sich ruckartig nach links. Aus den Felsritzen, in denen ich zwei Klemmkeile als Verstärkung gelegt hatte, bröselten knirschend Sand und Steine.
„Du darfst nicht mehr stürzen!“
Aus vollem Hals rief ich zu Thomas hinunter: „Der Standplatz hält nicht! Du darfst nicht mehr stürzen!“ Doch im selben Moment straffte sich das Seil – und dann wieder und wieder! Ich schrie so laut ich nur konnte, aber Thomas hörte mich nicht. Ich musste handeln: Als das Seil kurz nicht unter Zug stand, nahm ich es aus dem Tuber und sicherte ihn über einen Halbmastwurf im Karabiner. Nachdem er erneut gestürzt war, ließ ich ihn sofort ab. Mittlerweile war es Nachmittag geworden und an ein Weiterklettern ohnehin nicht mehr zu denken. Ich suchte nach einem neuen Standplatz und seilte mit angehaltenem Atem ebenfalls ab. Bei Thomas angelangt ging das Prozedere weiter: Wir suchten unter dem Schnee nach Ritzen und Felsvorsprüngen, um daran abseilen zu können. Langsam kamen wir tiefer.
Erst als wir wieder am Wandfuß standen – nass, dreckig und ein wenig bleich im Gesicht – ließ die Anspannung nach. Alle Abseilstände hatten unserem Gewicht standgehalten – uns war nichts passiert. Für mich war diese Tatsache Grund zur Freude, denn ich hatte gelernt, dass der Gipfel stets zweitrangig ist.
War alles umsonst?
Während wir nun weiter abstiegen, schwieg Thomas nachdenklich. Ich wusste genau, welche Gedanken er sich machte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, blieb Thomas stehen: „Beinahe hätten wir es geschafft! Und jetzt, da wir umgedreht sind, war alles umsonst.“
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Ich musste schmunzeln und erwiderte: „Nein, Thomas. Umsonst war das nicht! Jetzt wissen wir mit Sicherheit, dass die Bedingungen in der Nordwand nicht gut sind. Wir sind zwar umgedreht, aber wir haben es versucht.“ Während wir weitergingen, sagt ich: „Lieber drehe ich zehnmal um, bevor ich ein einziges Mal ein zu hohes Risiko eingehe. In dieser Hinsicht war der heutige Tag ein Erfolg.“
Mit großen Augen schaute mich Thomas an. Dann schien er zu begreifen und erinnerte mich dabei an mich selbst, als ich mit 15 Jahren mit dem Bergsteigen begonnen hatte. Auch ich musste zuerst lernen, dass es nicht nur um den Gipfel geht. Viel wichtiger ist, was das Gebirge mit uns macht und was wir dort oben lernen. Und da gehört das Umdrehen – so schmerzlich es im Moment auch ist – unbedingt dazu. Eine Erkenntnis, die jeder Bergsteiger verinnerlichen sollte.
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