Das Spiel der Leiden
Foto: Simon Messner Archiv
von Simon Messner
Simon Messner ist Bergsteiger und Bergbauer – wie sich das zu einem Leben fügt, erzählt er in seiner Kolumne. Dritte Folge: Auf Expedition in Pakistan erfüllt er sich einen Traum und erklimmt einen bis dahin unbestiegenen Siebentausender.
Von Skardu aus waren Martin Sieberer und ich Ende Juni dem Masherbrum- Gletscher folgend tiefer ins südliche Karakorum gewandert. Auf einem kleinen Moränen-Rücken richteten wir unser Lager ein und suchten bald Wege durch den wild zerklüfteten Gletscher. Etappenweise passten wir uns an die dünne Luft an, um nicht bei der eigentlichen Besteigung eine schwere Höhenkrankheit zu riskieren.
Mitte Juli machte uns der Wetterbericht aus dem fernen Europa Hoffnung: Unsere Chance – vielleicht die einzige – für den unbestiegenen 7.180 Meter hohen Yernamandu Kangri schien gekommen. Wir packten nur das Allernötigste in die Rucksäcke und verzichteten sogar auf ein Seil: eine zehn Meter lange Reepschnur musste als Sicherung für Gletscherpassagen reichen. Wäre eine Stelle nicht kletterbar, würden wir umdrehen. Mit diesem Vorsatz verließen wir das Base Camp.
Keine Wolke war am Himmel, und es fühlte sich gut an, endlich gehen zu können. Schnell hatten wir unseren Rhythmus gefunden und stiegen zügig höher, ehe wir in 5.400 Metern am Rande einer großen Spalte eine Plattform gruben.
Tags darauf querten wir ein breites Gletscherbecken, als sich in dem weitläufigen Hang die Bedingungen schlagartig änderten: Bei jedem Schritt brachen wir durch den dünnen Harschdeckel. Wir verausgabten uns bis zur völligen Erschöpfung und ließen uns schließlich schwer atmend in den Schnee fallen. Vor uns stand der Gipfelaufbau des 7.821 Meter hohen Masherbrum und rechts der Yernamandu Kangri.
In der Dunkelheit der Nacht schmolzen wir Schnee und lutschten im Dunst des Atems an gefrorenen Snickers-Rie- geln. Als es dämmerte, stapften wir schlaftrunken los: Zwanzig Schritte gehen, Pause, atmen, zwanzig Schritte gehen, Pause. Wir wanderten durch eine fremde fabelhafte Welt in diesem Labyrinth aus Aufschwüngen und Schneebrücken, überkletterten Spalten und umgingen türkis schimmernde Eisbrocken. Es schien ewig zu dauern, bis wir unter der Gipfelwand standen. In den Alpen wäre sie eine klassische Nordwand: etwa 600 Meter hoch, mit bis zu 70 Grad steilem Eis. Doch hier befanden wir uns in gut 6.500 Metern! Auf kühlschrank- großen Eisbrocken sitzend, blickten wir gedankenverloren hinauf. Insgeheim wussten wir: Wenn einer die Umkehr erwogen hätte, wäre sie beschlossene Sache gewesen. Weil aber keiner das Unaussprechliche in den Mund nahm, sagte irgendwann einer von uns: „Rechts durch die Wand. Unter dem großen Sérac nach links. Könnte gehen.“ Wir standen auf, als sei dies das Natürlichste der Welt, und schulterten wieder unsere Rucksäcke.
Vom Aufstieg zum Gipfel habe ich nur schemenhafte Erinnerungen: Durch hüfthohen Triebschnee und über steinharte Platten ging es stundenlang durch die Wand. Paralleles Soloklettern war uns von vielen gemeinsamen Touren vertraut, wegen der Müdigkeit drohten wir aber zusehends in den Pausen einzuschlafen. In der steilen Wand und oh ne Seilsicherung hechelten wir auf unsere Pickel gelehnt wie Hunde. Genau wie mein Taufpate, der Höhenmediziner Oswald Oelz, zu sagen pflegt: „Höhenbergsteigen ist das Spiel der Leiden.“
Als wir nicht mehr daran glaubten, begann das Gelände flacher zu werden, wir erreichten einen Sattel und stiegen am 15. Juli 2023 kurz nach 11 Uhr auf einem kleinen Schneeplateau aus. Dies musste der Gipfel sein. Der Gipfel!
Eine Art von „Glück“ kam nicht auf. Ich fühlte nur bleierne Müdigkeit und tiefe Erleichterung. Kein Schritt nach oben schien mehr möglich, und es sollte dauern, bis wir das Erlebte begriffen: In drei Tagen hatten wir den Gipfel eines unbestiegenen Siebentausenders erreicht – ohne Seil, Träger oder Hochlager. Seit meinen Kletteranfängen wollte ich mit einem Freund auf einem hohen, ein samen Berg stehen. In Pakistan ist dieser Traum für Martin und mich in Erfüllung gegangen, und mehr kann man sich für ein Bergsteigerleben eigentlich gar nicht wünschen.
Simon Messner machte mit 15 Jahren erste Felstouren in den Dolomiten. Ihm gelangen Erstbegehungen in den Alpen, Pakistan und im Oman. Der studierte Molekularbiologe bewirtschaftet einen Bauernhof bei Juval.
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