Transsilvanische Karpaten: In der Heimat von Dracula
von Christina Geyer
Wer nach wilden Bergen und einsamen Weiten sucht, wird in Transsilvanien fündig. Den Knoblauch kann man getrost daheim lassen, denn: In den Karpaten trifft man wahrscheinlicher auf einen Braunbären als auf Graf Dracula.
Transsilvanien. Das weckt Bilder im Kopf. Von Nebel und Wäldern, Burgen und Vampiren. Aus gutem Grund. Das siebenbürgische Hügelland im Zentrum Rumäniens ist tatsächlich von monumentalen Burgen und riesigen Waldflächen geprägt, immerhin dem größten noch bestehenden Waldgebiet Europas. Nicht umsonst leitet sich daraus auch der Name Transsilvaniens ab: Jenseits („Trans“) der Wälder („Silva“). Man kann verstehen, warum sich Bram Stoker hier zu seinem Vampirroman Dracula inspiriert sah. Nach aufwendig inszenzierten Gruselattraktionen sucht man glücklicherweise vergebens, die Legende um den blutsaugenden Grafen bleibt dennoch untrennbar mit Transsilvanien verflochten. Das allein macht den Reiz dieser Gegend aber nicht aus.
Immerhin gibt es ja auch noch die Berge. Nach den Alpen sind sie das bestimmende Gebirgssystem in Mitteleuropa: die Karpaten. In einem weiten Bogen rahmen sie Transsilvanien ein und erheben sich im Făgăraș-Gebirge mit der Moldoveanu-Spitze bis auf 2.544 m. „Es gibt Regionen in den Karpaten, wo man wochenlang unterwegs sein kann ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen“, erzählt Marian Anghel, Bergführer und Präsident der rumänischen Bergführervereinigung (SGLM).
Eher noch trifft man dort auf einen Bären, denn in den Karpaten ist die größte Braunbären-Population Europas heimisch. Übertroffen wird sie bloß noch von Sibirien. Gut so, findet Marian Anghel. „Wir wollen nicht denselben Weg wie die Alpen beschreiten. Die Karpaten sollen wild bleiben.“ Und das sind sie. Unverspurte Hänge, einsame Weiten – und mittendrin eine kleine Hütte, wie es sie in den Alpen bestenfalls vor 100 Jahren noch gab.
Inmitten des Făgăraș-Gebirges hoch über Avrig in den Südkarpaten liegt sie, die Cabana Bărcaciu (1.550 m), deren Hüttenwirt Petru Ioan gemeinsam mit seiner Frau seit knapp 27 Jahren permanent hier oben lebt. Im Winter ist die Hütte von der Zivilisation abgeschnitten: Der einzige Weg ins Tal erfolgt auf Skiern. Die Vorräte für den Winter werden im Herbst auf die Hütte gebracht – und müssen reichen. Es ist ein beschaulicher und zumeist ruhiger Alltag in der kleinen Hütte, die aus zehn Stockbetten, zwei Tischen und einem Kachelofen besteht. Dann und wann, zumeist an den Wochenenden, schauen einige Tourengeher auf einen Tee aus selbstgepflückten Bergkräutern vorbei.
Petru Ioan entschied sich 1990 für dieses Leben, um der damaligen politischen Wirklichkeit zu entfliehen, die im Gefolge der Rumänischen Revolution von fundamentaler Unsicherheit geprägt war. Er zahlte damals umgerechnet 1.500€ für sein selbsterwähltes Exil. Mittlerweile kann sich der knapp 70-jährige Hüttenwirt nicht mehr vorstellen, in einer Stadt zu leben, ja, noch nicht einmal mehr in einem Dorf. Immerhin: Die Wahl hätte er. Auch die bestand nicht immer.
Mit der Machtübernahme der Sowjetunion wurden nicht nur der 1880 gegründete Bergsteigerverein SKV (Siebenbürgischer Karpatenverein) aufgelöst und im Zuge dessen insgesamt 60 Berghütten enteignet, weite Teile der Karpaten wurden auch zum Sperrgebiet ausgerufen, das einzig von Militär und Geheimpolizei betreten werden durfte. Warum? „Berge verheißen Freiheit – und Freiheit war im kommunistischen Regime nicht erwünscht. Also hat es den Bergsport unterbunden“, erklärt Marian Anghel. Die 65-jährige Alpingeschichte der Karpaten endete damit nicht nur abrupt, sondern auch nachhaltig.
Die Hinrichtung des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu im Dezember 1989 markiert zwar das Ende des Kommunismus in Rumänien, der Kampf um die Restitution der einst enteigneten Hütten währt allerdings bis heute. Etliche von ihnen wurden zwischenzeitlich vom Staat an private Investoren veräußert. Man munkelt, dass einige Unterkünfte gar mutwillig – und nicht nur versehentlich – niedergebrannt wurden, um sie nur wenige Meter vom ursprünglichen Standplatz wieder zu errichten und damit einer Rückerstattung an den 1996 neu gegründeten SKV zu entgehen. Entsprechend nüchtern fällt die Bilanz aus: Bis dato befindet sich lediglich eine einzige Hütte wieder im Besitz des SKV, nämlich die Julius-Römer-Hütte im Postăvarul-Gebirge bei Brașov.
Doch damit nicht genug: Auch an den Höchststand von 6.500 Mitgliedern im Jahr 1925 konnte der SKV nicht wieder anschließen. Heute bringt er es gerade einmal auf 500 Mitglieder. Dieser Rückgang von über 90% erklärt sich auch durch den Umstand, dass der größte Anteil der Mitglieder auf die deutschsprachige Minderheit der Siebenbürger Sachsen entfiel, die bereits im 12. Jahrhundert in Rumänien angesiedelt wurden. Die Massenabwanderung der Rumäniendeutschen nach 1989 riss damit auch ein tiefes Loch in den (neuen) Mitgliederstand des SKV.
Es ist beherzten Bergfreunden wie Marian Anghel zu verdanken, dass der Bergsport in den Karpaten trotzdem wieder Aufschwung nimmt – wenn auch nur langsam. Insgesamt 160 Guides sind mittlerweile wieder in den Karpaten tätig, davon je 80 Bergführer und 80 Bergwanderführer. Marian Anghel engagiert sich als Präsident der rumänischen Bergführervereinigung SGLM unter anderem in der Vereinheitlichung des Markierungssystems im karpatischen Wegenetz, das sich in seiner Komplexität stark von den Markierungen im Alpenraum unterscheidet. Außerdem bemüht er sich um die Förderung eines nachhaltigen, sanften „Wildlife“-Tourismus sowie um die Vermittlung der turbulenten Geschichte Rumäniens.
Als Marian Anghel durch feinsten Tiefschnee von der Cabana Bărcaciu abfährt, entfährt ihm ein Freundensjauchzer. Und der verrät, dass sich sein Einsatz für die Karpaten aus aufrichtiger und tiefer Liebe zu den Bergen speist. Und das kann man nur allzu gut verstehen, wenn man den Blick über die schier endlosen Weiten der Karpaten schweifen lässt. Dracula mag sich hier nicht verstecken, dafür aber eine wirklich einmalige Mischung aus Kultur, Historie – und natürlich: wilden Bergen.
Tourentipps
1. Winterwandern im Piatra Mare-Gebirge
Unterwegs im Piatra Mare-Gebirge in den Munții Bârsei bei Brașov: Durch tief verschneite Wälder zur Cabana Piatra Mare (1.628 m) und weiter hinauf auf den höchsten Gipfel, Piatra Mare (1.845 m), des namensgebenden Gebirges.
Piatra Mare
2. Skitour im Făgăraș-Gebirge
Über einen Ziehweg durch den Wald hinauf zur Cabana Bărcaciu (1.550 m) – hoch über Avrig – und weiter über die Baumgrenze hinweg ins alpine Gelände zum Grat der Vârful Scara (2.308 m) auf 1.800 m.
Cabana Barcaciu
3. Winterwandern im Hoia Baciu-Wald
Unterwegs in einem Wald bei Cluj-Napoca, der den Ruf als gruseligster Wald der Welt genießt. Aufgrund der überschaubaren Größe und mäßigen Höhenunterschiede eignet er sich besonders für kurze, gemütliche Wanderungen – dafür aber mit Gruselfaktor.
Hoia Baciu bei Cluj-Napoca
Infos und Adressen: Transsilvanien, Rumänien
Beste Reisezeit: Ganzjährig – abhängig vom Vorhaben. Im Winter kann es kalt werden in Rumänien, aber immerhin: Beim Tourengehen wärmt man sich schnell wieder auf!
In den Bergen: Es empfiehlt sich, bei Erkundungstouren in den Karpaten einen Bergführer zu engagieren. Zum Beispiel: Marian Anghel, Bergführer und Präsident der rumänischen Bergführervereinigung.
Ansehen:
- Schloss Bran: Bram Stokers Vorlage und Inspirationsquelle für das Schloss des Grafen Dracula.
- Bauernburg Râșnov (bei Brașov).
- Sighișoara: Mittelalterliche Kleinstadt, deren historisches Zentrum zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wurde.
- Sibiu: Geschichtsträchtige Stadt mit viel Flair und Sehenswertem.
Anreise: Mit dem Flugzeug nach Bukarest (aus Wien: 1 h 30, aus München: 2 h, aus Zürich: 2 h 15). Besonders unabhängig und flexibel gestaltet sich eine Reise durch Transsilvanien per Mietauto (cirka 50€ pro Woche).
Übernachten:
- Brașov: Casa Cranta.
- Sighișoara: Casa Georgius Krauss.
- Sibiu: Casa Luxemburg.
- Bukarest: Scala Boutique Hotel.
- Berg & Freizeit
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