Simon Messner: Zweifel am Bergsteigen
Foto: Philipp Brugger
von Simon Messner
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: Über das Klettern als gefährliche Sucht und Zweifel am eigenen Tun.
Über viele Jahre wollte ich einfach nur klettern, so oft und so viel wie nur möglich. Bis es zur Obsession wurde und mich blind für die Gefahren am Berg machte.
Dabei interessierte es mich herzlich wenig, was mein Umfeld dazu sagte oder dass meine schulische Laufbahn manchmal darunter litt. Was war schon eine gute Note im Vergleich zur Durchsteigung der Eiger-Nordwand? Was die Aussicht auf eine berufliche Karriere im Vergleich zu jenen tiefgreifenden Erfahrungen, die ich in den Wänden der Dolomiten machen konnte?
Beinahe schien es so, als würden mein Interesse für das Bergsteigen und mein Wille, mit dieser Tätigkeit weiterzumachen, proportional zunehmen, je spürbarer die Ablehnung meiner Lehrer und vor allem jene meiner Eltern wurde. Man könnte auch sagen, ich war einfach stur. Vor allem in persönlich schwierigen Zeiten wurde das Gebirge zu meinem Rückzugsort. Wenn ich nämlich etwas zu schätzen gelernt hatte, dann war es jene unbestechliche Ehrlichkeit, die den Bergen innewohnt. Ich lernte, dass die Natur und somit die Berge nicht käuflich sind, nicht wertend, nicht kritisierend. Die Berge, wie ich sie kennenlernen durfte, sind weder gut noch böse. Sie sind einfach nur da. Und ich sah so viele Wände, Linien und Abenteuer, die alles überstiegen, was ich in der Schule je hätte lernen können.
Realitäts-Check
Es dauerte einige Jahre, bis ich zu erkennen begann, dass das, was ich da tat, in eine Sackgasse führen musste. Denn ab einem gewissen Punkt schienen nur mehr meine Kletterfreunde zu verstehen, was ich eigentlich tat, und aus einer inneren Verbissenheit heraus begann ich über meine Touren und Erlebnisse zu schweigen. Ich hatte das Gefühl, solch starken Erlebnisse nicht teilen zu können oder gar nicht teilen zu wollen. Das ließ mich blind werden für die Gefahren, die in den Bergen lauerten.
Xari, Albert, Sigi, Hansjörg, David, Robert, Hannes und die vielen, vielen anderen, die ich flüchtig oder besser kannte, hatten ihre Leidenschaft mit dem Leben bezahlt. Wie konnte das nur sein? Sie alle waren Experten am Berg, wussten genau, was sie taten, und sind doch viel zu früh von uns gegangen. Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit vielleicht, ein kleiner Fehler oder eine unglückliche kosmische Konstellation mussten es gewesen sein, die meine Freunde nicht mehr hat heimkommen lassen. Am Ende ist es reine Statistik: Je öfter wir uns exponieren und je öfter wir ein und dieselben Handgriffe machen, desto gefährlicher wird es.
Brenzlige Situationen
Da war die Lawine in Nepal, die Philipp und mich bis zur Brust begrub, oder das Schneebrett im Stubaital, das mich zwanzig Meter mitriss. Der Sturz am Ortler und die Luxation meiner linken Schulter (an die Schmerzen erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen) oder die jugendlichen Irrfahrten in den Dolomiten, denn Haken schlagen konnten wir damals noch nicht. Da war der ausbrechende Pfeiler während jener Solo-Erstbegehung der „Diagonalen“ am Ortler, das Gewitter und die Stromschläge am Matterhorn, das grauenhaft kalte Biwak im Oman. Oder die verzweifelten Stunden während einer Solobegehung in den Dolomiten, bei der ich mich verstiegen hatte und es zu regnen begann. Meine angefrorenen Zehen nach den Begehungen der „Heckmair“ am Eiger, der „Goodbye Innsbrooklyn“ am Schrammacher und der Sturm in Patagonien. Oder mein erster alpiner 20-Meter-Sturz, den Hansjörg halten konnte, obwohl sich das Seil tief durch seine Handschuhe brannte. Dann der Beinahe-Absturz, als ein riesiger Eiszapfen Roland und mich um Haaresbreite mit in die Tiefe gerissen hätte. Der Spaltensturz von Martin in Pakistan und der ausbrechende Standhaken, als es dunkel wurde, damals nach der Erstbesteigung des Black Tooth im Karakorum.
Die hohe Lawinengefahr am Geshot Peak oder der ausbrechende Felsblock am Heiligkreuzkofel, der den ungesicherten Berni um Haaresbreite mit sich gerissen hätte. Jener herabfallende Stein in der Marmolada-Südwand, der mich am Standplatz sichernd am Knie traf und mir alle Sinne raubte. Nicht zu vergessen der Sturz von Philipp in Nepal auf über 5.000 Meter Höhe, der ihn – für mich unerreichbar – über Stunden ohnmächtig im Seil baumeln ließ …
Dennoch: Die schönste Nebensache der Welt
Je mehr ich nachdachte und in meinem Tourenbuch stöberte, desto klarer wurde das Bild in meinem Kopf: Meine große Leidenschaft, das Klettern und Bergsteigen, ist und bleibt gefährlich. Trotzdem (oder vielleicht auch deshalb) ist es für mich die „schönste Nebensache dieser Welt“ geblieben, woran sich so schnell auch nichts ändern wird. Aber mit der Frequenz kommt die Gefahr. Daher gilt es, wachsam zu bleiben und sich hin und wieder zu fragen, wieso man das eigentlich macht.
Mit Simon Messner auf einen 4.000er
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Seit Anfang des Jahres lest ihr auf bergwelten.com regelmäßig Simons Kolumne. Einmal im Monat erzählt er Geschichten aus seinem Leben als Alpinist und setzt sich mit den großen Themen des Bergsports auseinander. Seine bisherigen Beiträge könnt ihr hier nachlesen:
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