Risiko am Berg: Eine Frage der Perspektive
Heute vor fünf Jahren verunglückte der Schweizer Extrembergsteiger und Solo-Alpinist Ueli Steck am Nuptse tödlich. Anlässlich seines Todestages stellt Bergwelten-Autorin Christina Geyer die Fragen, was das Risiko auszeichnet und warum man darin eben einen Draht zum Leben – und nicht zum Tod – sehen kann.
Ende April 2017 kam der Schweizer Extrembergsteiger Ueli Steck am Nuptse im Himalaya ums Leben. Das Medienecho war überwältigend, die Bergszene steht unter Schock. Aber warum kam sein Tod für viele so überraschend? Es ist kein Geheimnis: Gut ein Drittel der Spitzenalpinisten verliert ihr Leben am Berg. Der Tod gehört so gesehen zu den verlässlichen Größen des Alpinismus. Ist er also der Preis, den Bergsteiger wie Ueli Steck irgendwann für ihre Ziele zahlen müssen? Wohl kaum. Immerhin sind sich alle großen Bergsteiger darin einig, weder lebensmüde noch leichtsinnig zu sein. Warum also nehmen sie die verhältnismäßig großen Risiken dennoch auf sich?
Zweifelsohne liegen tragische Unfälle beim Bergsteigen immer im Bereich des Möglichen. Ihr Eintreten ist darum aber noch nicht gewiss, wie etwa Urgestein Reinhold Messner beweist. Ein Risiko einzugehen heißt eben noch nicht, auch die damit verbundene Gefahr leichtfertig in Kauf zu nehmen – sondern erst einmal nur, sich dieser bewusst zu sein. Philosoph Julian Nida-Rümelin definiert Risiko als etwas, „wo bestimmte Wahrscheinlichkeiten dafür vorliegen, dass Schäden eintreten.“ Das Risiko hat also ganz offensichtlich etwas mit Wahrscheinlichkeiten zu tun.
Ob aus dem Risiko eine reale Gefahr wird, kann man im Vorfeld nicht wissen. Es gibt keine Formel, die uns verrät, wie hoch das Risiko werden darf, um es noch einzugehen. Es gibt nur eine einzige Person, vor der man sein Vorhaben im Verhältnis zum Risiko rechtfertigen muss – und das ist man selbst. Mit Leichtsinn hat das nichts zu tun, denn Risiken eröffnen freilich auch Chancen – sonst würde kaum jemand überhaupt jemals ein Risiko eingehen. Immerhin setzt man sich Risiken ja primär aus, um etwas anderes dadurch zu erreichen, einen Gipfel zum Beispiel.
Ein Risiko einzugehen heißt zunächst also: Sich bewusst machen, dass eine Gefahr eintreten könnte. Vorhersehen lässt sich das nicht, denn gerade am Berg sind viele Unfälle vom Schicksal (oder Zufall) abhängig. Ein Beispiel: Es besteht akute Steinschlaggefahr in der geplanten Route – also ein hohes Risiko. Zugleich verrät das „hohe Risiko“ noch nichts über den möglichen Eintrittszeitpunkt: Ob sich tatsächlich ein Stein löst, wird man erst wissen, wenn man die Route geht. Die Möglichkeit des Steinschlags ist in diesem Fall das Risiko, das man in Kauf nimmt. Risiko und Wagnis gehen Hand in Hand – es gibt kein Wagnis ohne Risiko.
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Risiko als Chance
Warum aber geht man ein solches Wagnis überhaupt ein und bleibt nicht auf der sicheren Seite? Warum sich überhaupt einem Risiko aussetzen? Einen starken Hinweis gibt der simple Spruch „No Risk, No Fun“. Das Risiko eröffnet eben auch Chancen – es ist sozusagen das, was man zur Erreichung bestimmter Ziele notgedrungen einstecken muss. Philosoph Dr. Arno Müller hat zum Thema „Sterben, Tod und Unsterblichkeit im Sport“ promoviert und sieht im Eingehen von Risiken die Möglichkeit, das Leben intensiver erlebbar zu machen: „Problematisch wird es aber, wenn das eigene Risikostreben zum kategorischen Imperativ überhöht wird: Du musst stets das Risiko suchen, sonst bist du langweilig.“
Auf die leichte Schulter sollte ein Risiko darum nicht genommen werden. Es gilt immer zwischen Ausgang A (alles geht gut) und Ausgang B (etwas passiert) abzuwägen. Wie hoch darf das Risiko von Ausgang B werden, damit A noch gewollt werden kann? Spitzenalpinisten können ein höheres Risiko durch Erfahrung und Können kompensieren, die bedrohliche Nähe zum Tod begleitet sie dabei aber stets. Reinhold Messner hat einmal gesagt: „Bergsteigen ist die Kunst, dort hinzugehen, wo man umkommen müsste, um nicht umzukommen“. So gesehen ist das Bergsteigen weniger ein Spiel mit dem Tod als mit dem Leben – oder wie Arno Müller sagt: „Bergsteigen ist kein kunstvoll verschleierter Selbstmordversuch, es hat auch nichts mit Todessehnsucht oder sonstigen Pathologisierungsversuchen zu tun. Bergsteigen ist im Idealfall fleischgewordene Existenzphilosophie, das heißt: Durch die Nähe des Todes erfahre ich mich als endliches Wesen, erfahre ich die Begrenztheit der Ressource Leben“. Risikobereitschaft ist also nicht zuletzt eine Frage der Perspektive – je nachdem ob man darin eine Nähe zum Tod oder zum Leben sehen möchte.