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Simon Messner: Vom Wandern in der Wüste

Menschen

4 Min.

25.03.2022

Foto: Adobe Stock / Mussa

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von Simon Messner

In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner aus seinem Leben als Alpinist. Diesmal entführt er uns in die Wüste. Eine flüchtige Begegnung in Algerien mit einer Karawane von Menschen hat für ihn viele Fragen aufgeworfen. Deren Antworten sind heute aktueller denn je.

Wir Menschen sind Weitwanderer. Unsere Physiologie, unser Stoffwechsel, die Art wie wir uns bewegen und sogar wie wir denken, sind auf stetes Gehen und Steigen ausgerichtet. Unser Körper hat sich angepasst, denn seit jeher war eine gute Ausdauer überlebensnotwendig. Sei es um zu jagen, um Wasser aus entfernten Brunnen zu holen, um Weideland zu suchen, Handel zu treiben oder – leider auch – um Kriege zu führen. Wer nicht laufen konnte, wer kein guter Geher war, blieb zurück. Das „Wandern“ war aus einem früheren Leben nicht wegzudenken. Heute nutzen wir unsere Freizeit oder nehmen sogar Urlaub, wenn wir zu Fuß gehen wollen. Zuweilen fliegen wir in weit entfernte Länder, um unseren Bewegungsdrang in Form einer Trekking-Reise zu stillen.


Vom Paradies zur Wüste

Eine ganz andere Beziehung zum Gehen habe ich 2007 in der algerischen Wüste bekommen: Begleitet von zwei ortskundigen Männern aus dem Volk der Tuareg und ihren Kamelen, wollte ich zusammen mit einem Freund durch die Steinscherbenwüste des Gebirgszuges Tassili n'Ajjer wandern, an Sandsteintürmen klettern und nachts unter freiem Himmel schlafen.

Mit der Hilfe unserer Begleiter hofften wir die Felszeichnungen des Tassili n'Ajjer ausfindig zu machen, die hier von 12.000 bis etwa 1.000 vor Christus entstanden sind. In feiner Linienführung und allen erdenklichen Brauntönen haben frühzeitliche Künstler Werke für die Ewigkeit geschaffen: Die Zeichnungen zeigen Wildtiere wie Nilpferde, Elefanten, Krokodile und Löwen, die einst in einer grünen Graslandschaften zwischen Flüssen und Seen millionenfach gelebt haben müssen. Zu sehen sind auch jagende Männer, geschmückte Frauen und Wesen mit auffallend großen runden Köpfen. Doch das, was einst ein Paradies gewesen sein musste, endete abrupt: 1.000 vor Christus begann die Austrocknung des Gebietes. Übrig geblieben sind nur Geröll, Steine und schließlich eine der größten Wüsten unserer Erde.


Unermessliche Weite

Ich war damals 17 Jahre alt und begeistert von Wüsten. Der Gedanke an diese unermessliche Weite und die lebensfeindliche Umgebung, durch welche man sich gehend bewegte, übten einen enormen Reiz auf mich aus. Dazu interessierte mich das Volk der Tuareg und die steinzeitlichen Relikte, die dank des trockenen Klimas bis heute überdauert haben. Ich konnte mir nichts Aufregenderes vorstellen als nomadengleich durch dieses trockene Land zu ziehen, Felszeichnungen zu suchen und auf Felstürme zu klettern.

Es war später Nachmittag und wir hatten unser Lager auf einer Erhebung in einem Wadi aufgeschlagen, als ich allein auf einen fünfzig Meter hohen Turm aus braunem Sandstein kletterte. Ich blieb eine Weile auf dem Gipfel sitzen und genoss die Stille. Als kleinen Punkt in der Ferne, von dem sanfte Rauchfahnen aufstiegen, erkannte ich unser Lager. Dann hörte ich plötzlich ein seltsam klingendes Geräusch. Instinktiv zuckte ich zusammen und duckte mich hinter einen Stein. Was konnte das sein: Vielleicht Militärs, die entlang der nahegelegenen Grenze zu Libyen patrouillierten? Oder gar Milizen? Die, so hatte man uns gesagt, konnten gefährlich sein.


Spuren im Sand

Dann traten die ersten dunkelhäutigen Menschen in jenes weitläufige Wadi ein, das sich zu meinen Füßen erstreckte: Männer mit zugeknoteten Plastiksäcken in den Händen, behängt mit Decken, Töpfen, Kanistern und alten Plastikflaschen. Frauen, die Kleinkinder auf ihre Rücken gebunden trugen, dazu alte Leute, gestützt von Jüngeren und Kinder in zerrissenen Kleidern. Sie alle marschierten barfuß oder mit behelfsmäßig zusammengeflickten Plastiksandalen durch den von der Nachmittagssonne aufgeheizten Sand. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Bis auf das seltsame Geräusch, das von hundert und aberhunderten Füßen und Sandalen ausging, war es mucksmäuschenstill. Ich wagte kaum zu atmen. Obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam, verschwand die Karawane im Handumdrehen. Zurück blieb nichts, außer aberhunderte von großen und kleinen Fußspuren im Sand.

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Ums Leben laufen

Nach dieser flüchtigen Begegnung in der Wüste stellte ich mir immer wieder dieselben Fragen: Wer waren diese Leute? Woher kamen sie? Wohin waren sie unterwegs und wieso sagte keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort?

Ganze acht Jahre sollte ich im Ungewissen bleiben, bis 2015 erstmals das Wort „Flüchtlingskrise“ fiel. Damit wurde mir mit einem Schlag bewusst, was ich als stiller Zeuge beobachtet hatte: Diese Menschen waren auf der Flucht. Sie hatten alles zurückgelassen, sogar ihre Heimat aufgegeben, um woanders auf ein besseres Leben zu hoffen. Dafür nahmen und nehmen diese Menschen alle Strapazen sowie tausende Kilometer lange Wanderungen durch ein ausgedörrtes Land in Kauf. Vielleicht war es vor 3.000 Jahren nicht anders als die einstigen Bewohner und Künstler der Trockenheit wegen das Tassili n'Ajjer verlassen mussten?  

Unter diesem Gesichtspunkt wirkt das, was wir im Westen in unserer Freizeit machen und wofür wir sogar per Flugzeug in entlegenste Winkel dieser Erde fliegen, beinahe zynisch: Während die große Minderheit aus reinem Vergnügen wandert, lief und läuft der Großteil der Menschen wortwörtlich um ihr Leben. Ein Umstand, der mir bis heute zu denken gibt.   


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