„Berge sind Zeittafeln“
Foto: Roland Vorlaufer
von Klaus Haselböck
Eine Aufforderung zur Unbescheidenheit: Der Autor Christoph Ransmayr über erzählte Erinnerung, Weltreisen in fünf Minuten und warum man beim Gehen im Gebirge besser in der Gegenwart bleibt.
Das Interview ist im Bergwelten Magazin (Dezember/Jänner 2016) erschienen.
Bergwelten: Sie sind Schriftsteller, Philosoph und ein stetig Reisender. Haben Sie über die Jahre eine bevorzugte Landschaft für sich gefunden?
Christoph Ransmayr: Nach meinen ersten Reisen an die Adria und in die Ägäis war ich überzeugt, das Mittelmeerische wäre das Wunderbarste. Irgendwann war es dann das Tropische. Bis ich die ersten Fahrten in den hohen Norden nach dem Franz-Josef-Land, gemeinsam mit Reinhold Messner, an Bord eines russischen Eisbrechers unternahm. Ich kam damals direkt aus dem strahlenden, pulsierenden Sommer Brasiliens, aus wunderbaren Tagen voller Vogelsang und Blütenduft, und habe mich für meinen Entschluss verflucht, ins Packeis zu fahren. Und dann wurde daraus eine meiner schönsten Reisen überhaupt, weil sie fast nur aus Licht zu bestehen schien. Es war, wie auf einem anderen Planeten zu landen.
Heute überlasse ich mich der Landschaft, in der ich mich bewege. Selbst wenn sie so trist ist wie etwa die russische Halbinsel Kola mit ihren gekenterten und halb versunkenen Schlachtschiffen, U-Booten und Truppentransportern. Auch das hat einen Zauber, der mich denken lässt: Träume ich, oder bin ich hier tatsächlich als Tourist unterwegs?
„Tourist“ möchte sonst kaum jemand sein. Schon gar nicht Menschen, die viel unterwegs sind. Warum ist Ihr Umgang mit diesem Wort so entspannt?
Das ist ein Eingeständnis. Ich suche mir den Namen ja nicht selber aus, sondern ich nehme den Namen an, der mir von den Landesbewohnern gegeben wird. Selbst wenn ich dort behaupten würde: Ich bin Schriftsteller, ich bin empfindsamer Wissenschaftler, ich bin Abenteurer, Grenzgänger. Dann sagen die Eingeborenen: Ja, gewiss, natürlich, aber weißt du, was du wirklich bist? Ein Tourist! Du hast keine Ahnung. Nicht von uns, nicht von unseren Traditionen und Bräuchen. Kennst du unsere Sprache, unsere Lieder, kennst du unsere Feste, Riten und Götter? Kennst du unsere Gesetze? Natürlich muss ich alle oder die meisten dieser Fragen negativ beantworten. Deswegen sage ich mir doch gleich lieber selber, dass ich ein Tourist bin.
Das Eingeständnis, dass man ahnungslos ist und seine Ahnungslosigkeit mithilfe der besuchten Menschen zwar nicht abstreifen, aber lindern kann, ist doch der wesentlich bessere Weg. Ich habe mich als sprachloser Idiot immer ganz wohl gefühlt. Weil es dieser Status ist, der mich etwas lernen, sehen und zuhören lässt.
Aus Ihren Begegnungen und Erlebnissen entstehen Bücher. Ist das Erzählen für Sie ein Drang, ein persönliches Bedürfnis, oder bloße berufliche Notwendigkeit?
Es ist ein Bedürfnis, das viel mit der Freude an der Verwandlung von Erfahrung, von Menschen und Landschaften in Sprache zu tun hat. Ich mache mir die Wirklichkeit bewusst, indem ich sie zur Sprache bringe. Und es begeistert mich, wie im Erzählen die Erinnerung Gestalt annimmt und ich begreife, was ich eigentlich gesehen habe.
Wäre das Schweigen manchmal nicht wesentlich verlockender?
Das, was zur Sprache gebracht wird, ist ohnedies nur der kleinere Teil. Der weitaus größere ist oft das betörte, manchmal auch bloß benommene Staunen. Für das Allermeiste, was ich erlebe, habe ich keine Worte.
Schreiben Sie für Leser, die selber gehen, die selber unterwegs sind?
Reisen ist mehr eine innere Bewegung als eine Bewegung von A nach B. Es ist vor allem die Bereitschaft, eine Position – eine emotionale oder intellektuelle, vielleicht auch eine religiöse oder philosophische – zu verlassen und sich zu einer anderen Position zu bewegen. Das hat keinen geografischen Rahmen.
Wenn wir unsere Köpfe und Herzen mit Bildern aus dem Leben anderer Menschen und Kulturen und mit den dazugehörigen Landschaften versorgen wollen, dann muss es natürlich immer wieder einige Leute geben, die sich tatsächlich auf den Weg machen. Sonst bekommen wir keine Nachrichten aus der Fremde. Aber wenn ich von Gegenden erzähle oder schreibe, in die Menschen niemals hin wollen oder hin können, dann wende ich mich an die Reisenden wie an die Sesshaften.
Wie viel an Wildnis brauchen Sie?
Manchmal relativ hohe Dosen. Die Kostbarkeiten der Kunst und Kultur, also des zivilisierten Lebens, erscheinen stets deutlicher, wenn man so etwas wie Wildniserfahrung hat. Nach einer 14 Stunden langen Bergtour – von den Wochen oder Monaten einer Expedition gar nicht zu reden – in einem Talschluss auf eine wunderbare Herberge oder gar ein Hotel zu stoßen kann so schön sein wie ein Traum.
Der beglückende Wechsel vom Gletschereis in ein Federbett erschließt sich vor allem dem, der sich bewegt. Aber es würde keinen Sinn ergeben – nachdem ich da oben gefroren habe –, den Rest meines Lebens in einem Luxushotel im Tal zu verbringen. Oder umgekehrt, den Rest meines Lebens im Eis zu verbringen, weil nur dort die funkelnde Reinheit herrscht.
In Ihrem Buch „Die Verbeugung des Riesen“ findet sich der Satz: „Jeder Weg, der seinen Namen verdient, führt zugleich in die Ferne und in die Tiefe, an den Rand der Welt und in ihr Herz.“ Erwarten wir da nicht etwas zu viel?
Man sollte, ja man kann gar nicht genug erwarten! Man sollte so unbescheiden sein wie nur möglich. Ob wir das Ziel einer Sehnsucht erreichen, ist eine andere Frage. Wovon hier die Rede ist, sind natürlich Momente und keine Dauerzustände. Denn selbst wenn ich das Herz der Welt berühre, kann ich dort nicht mein Zelt aufschlagen und sagen, nun bin ich endlich angekommen, nun bin ich zu Hause. Die Sehnsucht ist der Wind in den Segeln, nicht ihre Erfüllung.
Die Alpen sind bestens erforscht. Gibt es hier überhaupt noch Möglichkeiten für ein Entdeckertum?
Ja, etwas entdecken lässt sich in jedem Dorf und selbst in der nächsten Gasse. Ich habe zwanzig Jahre lang zwei Almen gepachtet im Traunsee-Gebiet, und es war erstaunlich, was ich von dem Bauern, dem diese Almen gehörten, lernen konnte an mir unbekannten Traditionen und Bräuchen – und Worten ja auch. Worte, die ich zuvor noch nie gehört hatte. Dazu muss man keine Weltreisen machen. Oder anders gesagt: Auch das sind Weltreisen, weil sie von einer Welt in die andere führen. Selbst wenn nur ein Weg von fünf Minuten dazwischen liegt.
Sie sind alpinistisch im Salzkammergut sozialisiert worden. Wie haben Sie die oberösterreichischen Berge rund um den Traunsee damals erlebt?
Es war eine Märchenkulisse, lange Zeit eine Märchenkulisse. Als Fünfjähriger, noch im Kindergarten, durfte ich mit meinem Vater über den Naturfreunde-Steig auf den Traunstein. Damals stand ich zum ersten Mal auf Felsengrund und ich war begeistert, zurück ins Tal sehen zu können, ins Alpenvorland, und trotzdem in einer vollkommen anderen, entrückten Welt zu sein. Eines meiner ersten Bücher, die ich von meiner Großmutter bekommen hatte, waren Alpensagen. Später hatte ich die gesamte griechisch-römische Mythologie in die Berge verlegt. Wenn ich mir die Kulissen etwa der Odyssee vorzustellen versuchte, hatte ich immer den Traunsee, das Höllengebirge und das Tote Gebirge vor mir, nie die Ebene, nie das kultivierte Land.
Erst als ich durch meinen Vater erfuhr, dass in diesen schönen Bergen, im Steinbruch von Ebensee, auch ein Nebenlager des Konzentrationslagers Mauthausen gelegen war, in dem Menschen aus ganz Europa zu Tausenden an Hunger, Krankheiten, Erschöpfung, Kälte und der Mordgier und Grausamkeit ihrer Bewacher gestorben waren, gingen mir die Berge als ein Ort der Märchen verloren.
In einigen Ihrer Bücher ist das Alpine ein zentrales Thema. Dort passieren aber merkwürdige Dinge: In „Der fliegende Berg“ fallen Sie aus der Zeit, und in „Morbus Kitahara“ verschmelzen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu einer neuen Wirklichkeit. Was machen die Berge mit unserer Zeit?
Berge sind Zeittafeln. Sie erheben sich aus dem hohen Tempo der zivilisatorischen Ebene in eine größere, wachsende Ruhe. Veränderungen finden hier sehr viel langsamer statt und zeigen uns eine andere Dimension von Zeit.
Dieses Schnelle und Hüpfende, heute so und morgen schon wieder anders, ist ja nur ein winziger Ausschnitt auf der Sekundenskala der großen Uhr. Die anderen Zeiger drehen sich ganz anders und mit anderer Geschwindigkeit, aber auch mit einer ganz anderen Macht. In unserer Welt ist das Gebirge die wirklich große, vielleicht die einzige Kulisse für eine Zeitreise. Wir können in den Bergen jederzeit und je nach Höhenlage mindestens drei, manchmal sogar vier Jahreszeiten und die Äonen der Geologie in der Gegenwart erleben. Wir steigen hinauf in eine uralte Landschaft, die sich einem neolithischen Jäger nicht anders dargeboten hat als dem Wanderer oder Kletterer der Gegenwart.
Sind die Berge also ein Ort, wo wir uns sammeln oder wo wir uns zerstreuen?
Die Berge bringen uns, ja zwingen uns in die Gegenwart. Wer seinen Weg in der Vertikalen sucht, ist sicherlich so sehr in seiner Gegenwart wie in kaum einer anderen Situation seines Lebens. Das hat etwas sehr Besänftigendes. In der Stadt können wir dasitzen und – zumindest in unseren Gedanken, Empfindungen und Sehnsüchten – gleichzeitig an weit entfernten Orten der Zukunft oder der Vergangenheit sein. Beim Gehen im steilen Gelände und im Gebirge bleibt man besser in der Gegenwart, sonst ist man im nächsten Augenblick Vergangenheit.
Zur Person
Christoph Ransmayr, 1954 in Wels/Oberösterreich geboren, lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen heute in Wien. Bücher wie „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“ oder „Atlas eines ängstlichen Mannes“ wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Herbst 2016 ist Ransmayrs Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ erschienen, der die Vergänglichkeit anhand des Baus einer zeitlosen Uhr thematisiert.
Buch-Tipp: Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit, S. Fischer Verlag.
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