Simon Messner: Hartnäckigkeit macht sich bezahlt
In der Bergwelten-Kolumne erzählt Simon Messner von seinem Leben als Alpinist. Diesmal: Wie ihm ein Kletter-Projekt in den Zillertaler Alpen erst nach fünf Jahren glücken sollte.
Ganze vier Mal, aufgeteilt auf fünf Jahre, habe ich mich an einer Linie im rechten Bereich der Schrammacher Nordwand in den Zillertaler Alpen versucht: das erste Mal im Hochwinter 2017 bei zweistelligen Minusgraden und viel zu viel Schnee. Weil uns die steilen Granitplatten mit Pickel und Steigeisen nicht kletterbar schienen, drehten wir um.
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Ein zweiter Versuch erfolgte dann im Frühsommer 2018. Aber der brüchige Fels und die teilweise autogroßen in und aus der Wand hängenden Granitschuppen sahen nicht sehr vertrauenserweckend aus – vor allem nicht bei Plusgraden. Dazu war die Wand aufgrund der Schneeschmelze nass. Also deponierten wir Keile, Felshaken und Schlingenmaterial für einen weiteren Versuch am Wandfuß und stiegen ab. Beim nächsten Mal – da waren wir uns einig – würden wir im Frühjahr kommen: bei kalten, aber trockenen Verhältnissen. Das von uns zurückgelassene Material war Ansporn und Erinnerung zugleich. Wir wussten beide, wie leicht es passieren konnte ein so ehrgeiziges, abgelegenes und dazu gefährliches Vorhaben aufzuschieben, und zwar so lange, bis man es vielleicht doch irgendwann vergisst.
Gesagt, getan: Als wir im Jahr darauf erneut durch das Tiroler Valsertal aufstiegen und nach etwa zweieinhalb Stunden den Wandfuß erreichten, war das von uns deponierte Material allerdings verschwunden. Da Klemmkeile und Felshaken nicht laufen können, müssen sie gestohlen worden sein. Somit endete auch dieser Versuch bereits in der dritten Seillänge. Mit nur vier verbliebenen Felshaken, drei Keilen und kaum Schlingenmaterial trauten wir uns nicht weiter. Das Risiko, wegen Materialmangels nicht mehr über die Wand abseilen zu können, war uns zu groß.
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Liebe auf den ersten Blick
Diese so logische Linie zwischen Schrammacher und Sagwand, die wir natürlich ohne Bohrhaken in einem möglichst „sauberen“ Stil eröffnen wollten, war eine harte Nuss. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, hat sie mich gefesselt, seitdem ich sie das erste Mal gesehen habe: eine geschlossene, steil in den Himmel aufragende Plattenflucht auf knapp 3.000 Meter Meereshöhe, die in ihrer Mitte von einem markanten System aus Rissen und Verschneidungen durchzogen ist. Es war „Liebe auf den ersten Blick“, könnte man sagen.
Dazu ist die Szenerie des hinteren Valsertales mit den Nord- und Westwänden des Olperers (3.476 Meter), des Fußsteins (3.380 Meter), des Schrammachers (3.410 Meter) und der im Westen gelegenen Sagwandspitze (3.227 Meter) einmalig. In diesem kleinen Paradies ist man zumeist alleine, denn nur wenige Skitourengeher und Alpinisten nehmen den langen Zu- und Abstieg in Kauf.
Ich ahnte, nein, ich wusste, dass die Linie kletterbar ist. Was ich noch nicht wusste war, wie uns das gelingen könnte. Eines stand fest: die richtige Logistik würde entscheidend und ein kühler Kopf von Vorteil sein. Über meterhohe, an der Wand lehnende Granitplatten zu klettern ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was als „entspanntes Kraxeln“ bezeichnet wird: es musste alles zusammenpassen und selbst dann war es keineswegs sicher, ob wir die Route auch tatsächlich klettern konnten.
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Nächster Versuch
Ende März dieses Jahres hatte es über einen ganzen Monat kaum Niederschläge in Tirol und im Alpenraum gegeben. Für Landwirte, die polare Gletscherschmelze und unser Klima ist die Trockenheit eine Katastrophe – für uns Nordwand-Aspiranten hingegen ein Segen. Das waren DIE Bedingungen, auf die wir so lange gewartet hatten. Ein kurzer Anruf genügte und mein langjähriger Kletterpartner Martin Sieberer war bereit.
Zusammen wollten wir die Route in einem Tag vom Tal aus nochmals versuchen. Unsere Strategie sah folgendermaßen aus: Ski für den Zustieg, Leichtsteigeisen und jeweils ein Paar Eisgeräte für den Aufstieg zur Wand, Kletterschuhe für die steilen Seillängen und nur ein Paar Bergschuhe, Steigeisen und Eisgeräte für den Notfall im Rucksack, den der Nachsteiger zu tragen hatte. Eine Daunenjacke für uns beide und 800 Milliliter Flüssigkeit sowie zwei Riegel für jeden von uns, dazu einige Haken und Klemmgeräte. Schnell kann nur sein, wer mit wenig Gewicht geht. Da heißt es verzichten.
Die Taktik ging auf: Am späten Nachmittag des 24. März 2022 standen Martin und ich auf dem schmalen Grat zwischen Sagzahn und Schrammacher. Ganze fünf Jahre nach meinem ersten Versuch hatten wir es geschafft: was für eine Freude und Erleichterung. Bis auf eine Felsschuppe, die Martin im Nachstieg ausgebrochen war, und meine angefrorenen Zehen, die den ganzen Tag in den zu engen Kletterschuhen leiden mussten, hatten es alle Beteiligten gut überstanden. Dazu bestätigte sich einmal mehr jener Satz, der mich nach nach Rückschlägen immer wieder neuen Mut fassen lässt und der mir zu einer Art persönlichem Leitfaden geworden ist: „Wer nicht versucht, kann gar nicht erst scheitern“.
Details zur Route „Goodbye Innsbrooklyn“
Schwierigkeit: VIII- (eventuell M8), die Schlüsselstelle muss zwingend frei geklettert werden
Ausgangspunkt: Touristenrast im Valsertal (1.345m)
Zustieg: Von der Touristenrast mit Skiern in 2h 30min durch das Valsertal (ca. 1.000 Hm)
Wandhöhe: 400m Schneerampe + 480m Kletterei
Abstieg: abseilen über die Route (zusätzlich Haken, Keile und Schlingen nötig)
Material: Normale Alpine Ausrüstung, 2x50 Meter Halbseile, ein Satz Camalots (Gr. 4 optional), einige Haken, Schlingenmaterial, Klemmkeile, Pickel, Steigeisen, Kletterschuhe & Tourenski für den Zustieg.
Anmerkung: Eine Wiederholung dieser Route bedarf den kompletten Allround-Alpinisten: Ski für den Zustieg, solides Klettern in hochalpinem Gelände und der Umgang mit Pickel und Steigeisen sollten unbedingt beherrscht werden.
Mit Simon Messner auf einen 4.000er
Du willst den Alpinisten persönlich kennenlernen und dabei gleich zwei Viertausender – das Breithorn (4.164 m) und den Alphubel (4.206 m) – erklimmen? Dann sei von 18. bis 21. August 2024 beim Bergwelten-Event in der Region Zermatt dabei!
Mehr von Simon Messner
Seit Anfang des Jahres lest ihr auf bergwelten.com regelmäßig Simons Kolumne. Einmal im Monat erzählt er Geschichten aus seinem Leben als Alpinist und setzt sich mit den großen Themen des Bergsports auseinander. Seine bisherigen Beiträge könnt ihr hier nachlesen: