Die Geier der Hohen Tauern
Immer im Frühsommer wird im Nationalpark Hohe Tauern zwei jungen Bartgeiern die Freiheit geschenkt. Grund genug für ein Fest zu Ehren der faszinierenden Wildvögel, die zur Zeremonie Friseur und Dienstmann mitbringen.
Text: Gundi Bittermann
Jedes Jahr bekommt eines der drei Bundesländer, die einen Anteil am Nationalpark Hohe Tauern haben, die Ehre, zwei Bartgeier-Nestlinge im Rahmen einer groß angelegten Feier in die Freiheit zu entlassen. Dabei werden die Kleinen in geschützten Felsnischen ausgesetzt und betreut, bis sie flügge werden.
Michael Knollseisen ist dabei sowas wie der Butler der Tiere. Sobald der letzte Gast die Geier-Gaudi verlassen hat, bezieht der Wildbiologe sein Lager in einer kleinen Almhütte mit direktem Blick auf den Horst. Alle drei Tage kraxelt er dann über Stock, Stein und hochalpines Gestrüpp hinauf in die Felswand, um seine Schützlinge mit Futter zu versorgen. Auf dem Menü stehen Rehfleisch und Lammhaxen – ein Festmahl für die Geier. Knollseisen selbst muss bei der Aktion möglichst unsichtbar bleiben, damit sich die jungen Vögel nicht an das Zimmerservice gewöhnen.
Doch ehe es hinauf geht in das gut ausgepolsterte Nest hoch oben im Berg, wird es für die Nestlinge noch ungemütlich. Mit Alufolie und Wasserstoff werden ihnen Strähnchen ins Gefieder gefärbt, streng nach vorgezeichnetem Plan. An diesen Strähnen wird man sie später von allen anderen Bartgeiern unterscheiden und so ihre Flugrouten nachvollziehen können.
Das Projekt zeigt Erfolg. Seit fast 30 Jahren werden Bartgeier im Alpenraum freigelassen, und heute besiedeln wieder rund 200 der um 1900 bereits ausgestorbenen Vögel den Alpenbogen von Monaco bis zum westpannonischen Berg- und Hügelland.
Es sind faszinierende Tiere, lange Zeit gefürchtet und als „Lämmergeier“ gejagt, die junge Schafe und sogar sogar kleine Kinder vom Hof holen. Wanderern begegnen die Tiere oft mehr neugierig als scheu. Dass diese Wanderer Bartgeier oft mit Fellresten sahen, mit denen sie ihre Horste auspolstern, trug zu ihrem Ruf als blutrünstige Bestien bei.
Dabei ist der Bartgeier der Letzte in der alpinen Nahrungskette. Er ernährt sich von Aas und Knochen, alles Reste, die zuvor Adler, Kolkrabe und Fuchs übriggelassen haben. Er kann Knochen bis zu einer Länge von 40 cm im Ganzen verschlucken. Und ist ihm doch einer zu sperrig, fliegt er mit ihm hoch hinauf und lässt ihn aus gut 50 Metern herunter auf einen Felsen fallen. Das tut der Geier so oft, bis der Knochen in mund-, Verzeihung: schnabelgerechte Stücke zerbricht.
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Die ersten Bartgeier-Freilassung fand 1986 im Rauriser Krumltal statt. Seit damals hat sich das Projekt zur Wiederansiedlung der Wildvögel zu einem der bedeutensten Artenschutzprojekte in Europa entwickelt. 170 junge in Zoos geborene Geier sind seit damals freigelassen worden. Seit 1997 brüten wieder Bartgeier in den Alpen, seit 2001 auch in Österreich. Irgendwann werden hoffentlich auch Michael Knollseisens Schützlinge unter ihnen sein.
Tipp: Am 28.Mai wurden im Kalser Dorfertal im Rahmen einer großen Feier die zwei Junggeier-Damen Fortuna und Lea in die Freiheit entlassen. Der Nationalpark Hohe Tauern hat einen Beobachtungsstand eingerichtet, von dem aus die Vögel gut sichtbar sind. Wildbiologe Michael Knollseisen und drei Nationalparkranger sind vor Ort, um interessierten Wanderern eine kleine Einführung in Geierkunde zu geben und Fragen zu beantworten.
Zu erreichen ist der Stand vom Parkplatz Dorfertal aus. Nach einer Stunde Gehzeit am Geschichtenlehrweg Dorfertal liegt er direkt am Weg. Der Stand ist täglich von 9 bis 17 Uhr besetzt.
Eine ausführliche Reportage über die Bartgeier finden Sie auch im aktuellen Servus in Stadt & Land.