Kopf aus – Gefühl an:
Planlos durchs Weserbergland

Was, wenn man sich beim Wandern ausschließlich auf das Gefühl verlässt? Was, wenn man einfach geht, ohne ankommen zu wollen? Ein Erfahrungsbericht aus dem Deutschen Mittelgebirge.

Text & Fotos: Daria Neu, Illustration: Romina Birzer

„Wichtig ist, dass du nie ohne Plan losgehst“: Immer wieder taucht dieser Tipp in Beiträgen zum Thema Wandern auf, die Anfängern das nötige Handwerkszeug mitgeben wollen, um ihre erste Tour zu organisieren. Lustig. Denn es ist genau das Gegenteil dessen, worum es sich heute dreht: einfach losgehen. Und zwar ohne Plan. Ohne Karte. Ohne Idee. Nur mit einem Kompass, den wir immer dabeihaben: unserem persönlichen Gefühl. In alpinem Gelände schafft das Verständnis von Wegbeschaffenheit, Streckenlänge und Wettervorhersage Sicherheit. Dennoch sind die Intuition und das Ernstnehmen der eigenen Bedürfnisse vor allem am Berg unerlässliche Wegbegleiter. Ich werde der Intuition daher bei dieser Tour das Ruder überlassen, mich auf den Weg machen, ohne zuvor eine Route ausgesucht zu haben, und einfach meinen Füßen folgen.

Der Kopf plant automatisch und trickst das Herz aus

Los geht es im Weserbergland – genauer gesagt in Amelunxen, einem 1.000-Seelen-Dorf, von dem schon 50 Kilometer entfernt die wenigsten etwas gehört haben. Die Idee: In meiner Heimat, in der ich 19 Jahre lang gelebt habe, könnte es leichter fallen, ohne konkretes Ziel vor Augen loszuziehen. Die Region im Herzen zu haben schafft Vertrauen und ist wohl die Voraussetzung dafür, überhaupt loslassen zu können. 

So einfach das Vorhaben klingen mag, es entwickelt sich zu einer echten Mammutaufgabe – und zwar bevor der erste Schritt überhaupt getan ist. Der Kopf beginnt nämlich automatisch zu planen, den logischen Weg zu wählen, einen guten Foto-Spot einzustreuen und das Ende schon mitzudenken, bevor das Projekt überhaupt gestartet ist. Ja, wirklich: Der Kopf ist ein Schlawiner, der permanent das Herz austrickst – Erkenntnis Nummer eins. Gefühl Nummer eins ist Anspannung. Permanent damit beschäftigt zu sein, nicht zu planen, ist, als dürfe man nicht an einen rosa Elefanten denken. Man kennt das Resultat.

„Die körperliche Anstrengung entlastet den Geist
und schafft Platz fürs Gefühl.“

Gehen ist meditativ – Pausen sind immer erlaubt

Nach dem ersten Kilometer, der ohnehin keine Entscheidung verlangt, weil es einfach geradeaus und bergauf geht, wird das Gedankenchaos aber leiser. Die Bergsteigerlegende Peter Habeler aus dem Tiroler Zillertal betont in seinen Interviews regelmäßig, das Gehen sei meditativ. Und das ist nachvollziehbar. Die körperliche Anstrengung entlastet den Geist und schafft Platz fürs Gefühl. Die Felder leuchten aufgrund des heißen Wetters seit ein paar Tagen schon goldgelb. Auf einer Wiese grasen Pferde, und dort hinten beginnt der Waldweg.

Schritt für Schritt geht es weiter. Und da es ja sowieso kein Ziel gibt, das innerhalb einer bestimmten Zeit erreicht werden sollte, sind Pausen, Rundumblicke, Lauschen und Innehalten immer erlaubt. Erkenntnis Nummer zwei: Das fühlt sich wirklich richtig gut an. Erkenntnis Nummer drei allerdings: Wie erschreckend ist es, wie selten wir uns das Innehalten im Alltag erlauben? Wann nehmen wir uns mal die Zeit, fünf Minuten am Stück einem Pferd beim Grasen zuzuschauen oder der Kirchenglocke beim Läuten zuzuhören? Und wieso machen wir das nicht viel öfter? Nach der kurzen Pferdebeobachtung fühle ich mich entspannter als nach so mancher Meditationsübung, die ich im Schneidersitz ausharrend im Wohnzimmer verbracht habe.

Kein konkretes Ziel zu haben bedeutet nicht, sich nicht auszukennen 

Mit diesem Entspannungsgefühl im Gepäck geht es weiter nach oben. An der Weggabelung richtet sich die Entscheidung nicht nach den Ortsnamen auf dem Schild, sondern danach, wo die meisten Bäume Schatten spenden. Das bezeichne ich jetzt mal selbstbewusst als Gefühlsentscheidung. Natürlich ist die ganze Zeit über klar, wohin die Wege führen. Ich wandere Richtung Wildberg. Ohne Ziel vor Augen loszugehen muss schließlich nicht bedeuten, sich nicht auszukennen (Erkenntnis Nummer vier). Das wäre völlig absurd und konstruiert.

Unter die Entspannung mischt sich etwas Stolz. Jeder, der Tag für Tag im Alltagsstress gefangen ist, weiß, dass es eine echte Leistung ist, sich bewusst für mehrere Stunden Auszeit zu entscheiden. Und das, obwohl jeder weiß, wie wichtig sie wäre.

Zufriedenheit ist genauso schön wie Euphorie 

Der Wildberg in Amelunxen (303 m), auf dem ich nach zwei Stunden ankomme, ist trotz idyllischer Tiefblicke auf die kleinen Dörfer und die satten Wiesen verglichen mit der Zugspitze (2.962 m), dem Hochvogel (2.592 m) oder dem Großen Widderstein (2.533 m) ein niedlicher Maulwurfshügel. Das ist aber auch vollkommen in Ordnung. Die eher seicht dahinplätschernde Zufriedenheit anstelle eines euphorischen Hochgefühls zu spüren ist gewissermaßen sogar entlastend. Erkenntnis Nummer fünf: Glück findet nicht immer auf Level zehn von zehn statt. Der Mensch braucht Pausen. Und das betrifft durchaus auch augenscheinlich Positives. 

Der Rückweg dauert ebenfalls zwei Stunden. Und so sitze ich am frühen Nachmittag nach insgesamt rund 15 Kilometern auf einer Sonnenbank und genieße den Ausblick aufs gute alte Zuhause. Ich bin und bleibe ein Planungsmensch. Das steht fest. Und doch wird es definitiv nicht das letzte Mal gewesen sein, mir diese Art des Wanderns zu gönnen. Im Alltag schenken wir unseren Sinnen häufig viel zu wenig Aufmerksamkeit. Wir benutzen sie, um Ziele zu erreichen, voranzukommen – wir benutzen sie als Mittel zum Zweck. Fühlen zu können ist ein Geschenk. Bei dieser Tour habe ich das erkannt. Beim Gehen. Und zwar ohne Plan. Ohne Karte. Ohne Idee.

Die Autorin

Daria Neu kommt aus dem Weserbergland in Nordrhein-Westfalen, lebt derzeit in Kassel (Hessen) und ist seit knapp sechs Jahren Redakteurin bei einer lokalen Tageszeitung. Die 28-Jährige ist leidenschaftliche Bergsteigerin. Fast jeden freien Urlaubstag nutzt sie, um in die Alpen zu reisen und ihrem Hobby nachzugehen. Am liebsten und häufigsten ist sie gemeinsam mit ihrer Familie im Allgäu unterwegs. Aber auch in den Tiroler und Südtiroler Bergen plant sie ihre Touren.

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