SELBSTVERSUCH
Mein Licht im Dunkeln
Klaus Haselböck steigt normalerweise auf Berge und schreibt darüber – oder zieht für einen Monat in die Wildnis Nordamerikas, um dort das Überleben zu proben. Nun stand ihm der Sinn jedoch nach einem Kontrastprogramm: dem Existieren in kompletter Dunkelheit.
Text: Klaus Haselböck, Illustration: Romina Birzer
Felswände, die beim Hinaufschauen meinen Nacken an die Grenzen führen, Firnabfahrten oder auf einsamen Pfaden durchs Gebirge? Für meine Auszeit dieses Frühjahr wollte ich genau das Gegenteil: den Sinnen eine radikale Pause gönnen und, anstatt mich dem Rausch der Eindrücke hinzugeben, Zeit im satten Schwarz verbringen.
Der Ansatz einer solchen freiwilligen Askese klingt ungewöhnlich, ist aber nicht neu. Der „Dunkelretreat“ gilt als spirituelle Praxis, die sich in vielen Kulturen und Religionen, vor allem im tibetanischen Buddhismus, bewährt hat. Tage in absoluter Finsternis können Klarheit zu den großen Fragen des Lebens bringen oder zumindest das eigene System entspannen.
Nachdem ich den Gedanken an eine Höhle, die klassische Wahl der Eremiten und Erkenntnissucher, aus logistischen Gründen verworfen hatte, fand ich die passenden Räumlichkeiten im Gut Saunstorf nahe Lübeck. Dort gibt es nämlich einen „Verzichtsraum“.
Vorstellen darf man sich diesen wie eine kleine Wohnung mit abgeklebten Fenstern hinter dicken Vorhängen, mit Bad und einem Eingangsbereich, der als Schleuse fungiert. Die vegetarische Verpflegung wird hier zweimal am Tag, nach einem Klopfzeichen, abgestellt, während man selbst durchgehend im Dunkeln bleibt. Was man drinnen tut, bleibt einem selbst überlassen, auch über die Zeitdauer entscheidet man selbst.
Acht Tage klang für mich angemessen, was rückblickend gesehen auf der ambitionierten Seite liegt. „Das ist schon ziemlich lang“, befand Christl, die als meine Betreuerin täglich Nachschau halten würde. So normal und aufgeregt der Raum im Hellen wirkt, so wenig ist planbar, was die Kombination von Einsamkeit und Dunkelheit in der jeweiligen Psyche über einen längeren Zeitraum auslöst.
Einrichten im Dunklen
Ein paar Stunden hatte ich vorher Zeit, mich noch im Licht mit meiner neuzeitlichen Höhle vertraut zu machen. Das galt es Alltäglichkeiten zu klären, wie die Zahnbürste zu positionieren, die Armaturen der Dusche zu verstehen, um sich nicht zu verbrühen, und zu wissen, welche Tür ins Helle führen würde. Versperrt ist hier nichts, aber früher hinauszugehen sollte zumindest eine bewusste Entscheidung sein.
Christl war es dann auch, die mich mit einer Kerze in den Raum begleitete. Als ich dafür bereit war, löschte sie diese, zog die Tür hinter sich zu und ließ mich allein in der Dunkelheit.
„Bereit“ war dabei relativ: So ein Dunkelretreat zählt zu jenen Erlebnissen, in die man ohne eine echte Referenz hineinstartet. Klar, wir waren alle schon im Dunkeln, kommen sogar – wenn man den Mutterleib hinzurechnet – von dort und tauchen jeden Abend erneut in die Finsternis ein. Für Hochtouren sind wir schon um drei Uhr morgens gestartet, im Schein der Stirnlampe oder ohne, dem Sonnenaufgang entgegen, und für größere Projekte wie dem Kilimandscharo auch schon ganze Nächte durchgewandert.
Und doch betrat ich mit der Entscheidung, in diesem kleinen dunklen Kokon mehr als eine Woche zu verbringen, emotionales Neuland. Gerade weil es in dieser Black Box – anders als am Berg – keine unmittelbare Aufgabe gibt und weil alles, wirklich alles, was uns sonst so herrlich von uns selbst wegbringen kann, da drinnen fehlt: keine schöne Aussicht, keine Bücher, kein Fernsehen, kein Handy, keine Musik. Nichts. Nur analoge Stille und ein fettes Schwarz.
Der Gedanke daran hatte mir schon im Vorfeld einigen Respekt abgenötigt, mich genauso nervös wie neugierig gemacht. Es kostete mich in Summe einige Monate, bis ich die Buchung halbwegs motiviert abschickte. Umso erstaunlicher waren die ersten Minuten nach Christls Abgang: kein Feuerwerk der Emotionen, sondern vor allem Ruhe, wohltuende Ruhe. Konnte der Zustand aber ausreichen, mich durch die kommenden 192 Stunden zu tragen? War das Nichts überhaupt so lange auszuhalten? Mit schierer Willenskraft, das war mir von vornherein klar, war die Aufgabe nicht zu bewältigen.
Schon gewusst?
Die Zirbeldrüse sitzt im Mittelhirn und bildet aus dem Glückshormon Serotonin das Schlafhormon Melatonin und gibt dieses an Blut und Gehirnwasser ab. Dadurch reguliert sie unseren Schlaf und steuert die sogenannte innere Uhr
Sich nicht selbst verloren gehen
Dem Angsthasen in mir schlug die Zirbeldrüse erst einmal ein Schnippchen: Sie gab richtig Gas. Weil es partout nicht hell werden wollte, schüttete der Körper Melatonin aus, als gäbe es kein Morgen respektive keinen Sonnenaufgang. Wachphasen schienen nur unerwünschte Unterbrechungen eines endlosen Schlafs zu sein: Eine beinah bleierne Müdigkeit war garniert mit emotionalen, höchst plastisch wirkenden Träumen und nur unterbrochen von kurzen Klo-Dusch-Ess-Pausen, für die ich mich den Wänden entlang durch die Räume manövrierte.
Irgendwann war dann aber genug geschlafen, der Stress der letzten Monate ausgeleitet, so mancher Schmerz transformiert und ich hellwach. In mir erwachte auch der Wunsch nach Struktur: Der Geist beamte mich in einen Überlebensmodus, suchte sein Heil in der Beschäftigung und motivierte mich zu Ritualen. Also machte ich meine hundert Liegestütz, machte Pranayama-Übungen aus dem Yoga und folgte langen Kaskaden an Entscheidungen, die mich an ebendiesen Punkt meines Lebens gebracht hatten. Zeit hatte ich genug, und keinesfalls wollte ich mir selbst verloren gehen.
Dass sich die anderen Sinne verstärken, wenn einer fehlt, hört man ja immer wieder, vor allem von Blinden. War deshalb mein Hören, mein Schmecken, Tasten und Riechen besser? Eigentlich nicht. Vielleicht waren dafür auch acht Tage noch zu kurz, vielleicht lag es an der Lage des Raums: Nur dann und wann drangen Laute von der Küche, wie das Scheppern von Töpfen, in mein Kellergewölbe vor. Und die Geruchsebene schien vergleichsweise neutralisiert, so steril wie eine frisch geputzte Wohnung eben riecht. Das Schwarz war in jedem Fall makellos und so abgrundtief, dass ich die Finger nicht einmal unmittelbar vor meinen Augen sehen konnte.
Schon gewusst?
N,N-Dimethyltryptamin, oder kurz das DMT-Molekül, gilt als das stärkste Psychedelikum der Welt und wird auch als das „Molekül des Bewusstseins“ bezeichnet. Es kommt in einigen Pflanzen vor – und es wird vermutet, dass es in der Zirbeldrüse produziert wird.
Aufbruch in ferne Galaxien
Der Sinn der peniblen Verdunkelung ist auch, die Zirbeldrüse zur Produktion von DMT-Molekülen zu motivieren. Jeder Lichtspalt kann angeblich ausreichen, diesen fragilen Prozess sofort zu stoppen. Ist er nach der Melatonin-Produktion erst einmal aktiviert – jetzt berühren wir die Grenze der Wissenschaft –, sollen diese körpereigenen Halluzinogene „Star Wars“ in meine bescheidene Herberge holen: von Klarträumen bis hin zu Astralreisen.
In ein und demselben dunklen Raum ist offenbar Platz genug für sehr divergierende Erfahrungen. Jeder checkt mit seinem Gepäck ein, hat eine unterschiedliche Geschichte und andere Aufgaben: So folgte bei mir auf die Phase des Durchbeißens nicht der Trip in ferne Galaxien, sondern ein sehr bodenständiges Zulassen. „Was, wenn ich mich ab sofort von den Ritualen trenne?“, fragte ich mich und erlaubte mir das Experiment. Statt pflichtbewusst zu pumpen, fand ich mich alsbald am Rücken liegend wieder. Über Stunden starrte ich hinauf ins große Nichts und bin auch rückblickend noch bereit zu schwören, dass dort ein Sternenhimmel in Form kleiner weißer Stecknadeln zu sehen war. Erstaunlich in jedem Fall, was für eine große Bühne sich über mir aufspannte und dass die Dunkelheit zunehmend Struktur bekam. Noch erstaunlicher, dass der stetige Strom der Gedanken langsam auslief und mein Bewegungshunger gar nicht erst gestillt werden musste.
Nicht die Dachstein-Südwand, die Gletscher des Monte-Rosa-Massivs oder eine Almwiese im Salzkammergut, sondern ein gekräuselter Teppichboden in Norddeutschland gab mir den gesuchten Frieden, holte mich in den Moment, ließ alles gut sein.
Irgendwann kam dann der Moment, nach dem ich mich längst nicht mehr verzehrte. Acht Tage waren vergangen, draußen wartete die Welt, und Christl saß neben mir im Dunkeln. „Wenn du bereit bist, Klaus, zünde ich jetzt die Kerze an.“ – „Warte bitte noch einen Moment“, antwortete ich ihr, „es ist gerade so fein hier.“
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