Der alte Mann und die Berge

Der Spanier Carlos Soria will in diesem Jahr der älteste Mensch werden, der die 14 höchsten Berge der Welt bestiegen hat. Zwei fehlen ihm noch.

Text: Manuel Meyer, Illustrationen: Sandra Neuditschko

 

Carlos Soria hat ein straffes Trainingsprogramm. Jeden Morgen gegen sieben Uhr fährt er erst einmal eine halbe Stunde auf dem Ergometer. Danach gibt es Frühstück: meistens Haferflocken oder Reis mit Sojamilch, dazu Chiasamen und ein paar Löffel Kakao.

Spätestens zwischen acht und neun Uhr geht es hinaus und hinauf. Sein „Hausberg“, wie der Spanier den Alto del Telégrafo nennt, ist 1.975 Meter hoch. „Ich gehe nach dem Frühstück meistens zweimal hoch und mache jeweils 600 Höhenmeter.“

Bei der Rückkehr steht nach einer kurzen Pause Muskelkrafttraining auf dem Programm: zwei Stunden Liegestützen, Bauchmuskeltraining, Sit-ups. Mit einem Balance-Ball trainiert er die Tiefenmuskulatur der Beine. Sein tägliches Fitnessprogramm fällt nur aus, wenn er gelegentlich zum Bergsteigen in die spanischen Pyrenäen, die Picos de Europa in Asturien oder in die andalusische Sierra Nevada fährt und tagelang weg ist.

All das wäre für einen Alpinisten nicht ungewöhnlich, wäre da nicht die Tatsache, dass Carlos Soria Anfang Februar 83 Jahre alt geworden ist. Und dass er in diesem Jahr der älteste Mensch werden möchte, der auf allen 14 Achttausendern gestanden ist.

Das große Ziel im Blick: Carlos Soria 2014 beim Abstieg vom Kangchendzönga, seinem elften Achttausender. Foto: privat

Carlos Soria lebt in einem kleinen Dorf namens Moralzarzal, rund 50 Kilometer nördlich der spanischen Hauptstadt Madrid in der Sierra de Guadarrama. Hinter seinem Haus hat er sich ein kleines Fitness-Studio mit Hanteln und Medizinbällen gebaut. An einer kleinen Kletterwand übt er mit seinen Eispickeln. Ungeachtet seines fortgeschrittenen Alters und eines künstlichen Knies, sagt er, mache ihm seine körperliche Fitness noch keine größeren Probleme. „Ich habe ein bisschen Stabilität in meinen Beinen verloren. Mit dem Alter verliert man einfach an Muskelkraft – vor allem auch in den Händen.“

Doch er will noch hoch hinaus. Genauer gesagt auf 8.167 Meter. Schon zehnmal hat Carlos Soria versucht, in Nepal den Dhaulagiri Himal, den siebthöchsten Berg der Welt, zu besteigen. Das letzte Mal im Mai vergangenen Jahres. Doch es lag zu viel Schnee. Selbst die Sherpas konnten den Weg nicht öffnen. „Das hätte ich mit meinem Knie auch niemals geschafft.“

Aber diesmal soll es klappen. Dafür trainiert Carlos hart. Gerade ist er aus Argentinien zurückgekommen, wo er ein Höhentraining absolviert hatte, Ende März geht es nach Nepal. Bevor er sich erneut an den Dhaulagiri Himal wagt, müssen gute Sherpas gefunden und die Lager auf dem Weg nach oben errichtet werden. Dann hängt alles vom Wetter ab. „Ich hoffe, spätestens Anfang Mai den Gipfel besteigen zu können.“

Damit wäre Carlos Soria seinem Traum einen großen Schritt näher. Und auch einem Weltrekord. Sollte er, wie geplant, im Herbst auch noch den 8.027 Meter hohen Shishapangma in China erklimmen, wäre er der älteste Mensch der Welt, der alle 14 Achttausender bezwungen hat.

 

Die 14 höchsten Berge der Welt liegen allesamt in Asien. Rot dargestellt sind jene Gipfel, die Carlos Soria noch für seinen Rekord fehlen.

 

Vom Polsterer zum Bergsteiger 

Seine große Leidenschaft für die Achttausender dieser Welt hat Carlos erst im vorgerückten Alter erwischt: Sein erster war 1990 der Nanga Parbat in Pakistan. „Ich war 52 Jahr alt und in der körperlich besten Verfassung in meinem ganzen Leben.“ Den Everest erklomm er 2001. Ganze elf der höchsten Gipfel hat er erst nach seinem 60. Geburtstag bestiegen.

Dabei klettert Carlos eigentlich schon sein ganzes Leben. Mit 14 Jahren kraxelte er bereits durch die Madrider Sierra de Guadarrama. Im Brotberuf lernte er zur selben Zeit erst das Buchbinderhandwerk, später wurde er Polsterer und übernahm die Polsterei seines Vaters mit vier Angestellten. Daneben blieb ein wenig Zeit für Bergexpeditionen, aber doch zu wenig für die ganz hohen Berge. 1968 bestieg er mit der ersten spanischen Expedition im Kaukasus den Elbrus, mit 5.642 Metern der höchste Berg Russlands. 1971 stand er auf dem 6.194 Meter hohen Denali in Alaska. 1973 und 1975 versuchte er sich im Himalaya an seinem ersten Achttausender, dem 8.163 Meter hohen Manaslu. Dessen Besteigung gelang ihm aber erst 1990.

Vier Töchter und ein erfülltes Berufsleben führten dazu, dass er sich den Achttausendern schließlich erst nach seiner Pensionierung zuwandte. Nach der Besteigung des K2, da war er 65, fasste er den Entschluss, auch die verbleibenden neun Achttausender noch zu besteigen: „Als Rentner hatte ich nun mehr Zeit, war fit dafür und sicher, es schaffen zu können.“

Reinhold Messner, der erste Mensch, der auf den Gipfeln aller Achttausender gestanden ist, brauchte für diese Leistung 16 Jahre. Carlos Soria stand vor nicht ganz 32 Jahren das erste Mal auf einem der höchsten Gipfel der Welt. Das ist eine lange Zeit, aber das extreme Höhenbergsteigen ist eben auch eine Geduldsprobe, mit Rückschlägen muss man umgehen können. Am Dhaulagiri Himal machte ihm bisher immer das Wetter einen Strich durch die Rechnung. 2014 kam er am Kangchendzönga, dem mit 8.586 Metern dritthöchsten Berg der Erde, nur knapp mit dem Leben davon: „Das Wetter war schlecht. Es war schon sehr spät, wir kamen nur langsam voran, und es gab keine Befestigungsseile mehr. Uns fehlten aber nur noch 300 Meter zum Gipfel. Deshalb wunderten sich die anderen, als ich beschloss, mit meinem Sherpa Muktu umzukehren. Die anderen elf gingen weiter. Fünf kamen ums Leben.“

Carlos Soria ist ein bescheidener, herzensguter Mensch. Während andere Bergsteiger von ihren Abenteuern in ständiger Lebensgefahr erzählen, kommt es ihm auf andere Sachen an: Nach der Besteigung der Annapurna blieb er 2015 wochenlang in Nepal, um den Menschen nach dem schweren Erdbeben zu helfen, mit der von ihm gegründeten Stiftung „Ayuda directa Himalaya“ wurden Schulen wiederaufgebaut. So auch in Sama Gaon am Fuße des Manaslu, wo er bei den Mönchen im Kloster wohnte. „Diese Erfahrung erfüllt einen mehr als die Besteigung des Manaslu.“

Das Tempo anpassen  

Auch sein Projekt, alle Achttausender zu besteigen, sieht er in einem größeren Zusammenhang: „Ich möchte damit der Welt zeigen, dass wir Alten auch noch etwas können.“ Vor allem will er seine Generation aber motivieren: „Viele meiner Altersgenossen denken oft, es sei nun vorbei für sie, Dinge zu tun, das Leben zu leben. Aber das stimmt nicht. Selbst in unserem Alter können wir noch viel erreichen, wenn wir wollen. Das will ich beweisen. Nicht jeder kann Achttausender besteigen, aber sich zu anderen Dingen animieren. Wir müssen uns einfach auf unser Alter einstellen.“ Wandern, schwimmen, Tennis spielen: Das alles könne man auch noch mit über 70 Jahren machen, wenn man nicht gerade eine Krankheit oder Behinderung habe: „Man muss das Tempo oder das Spiel nur seinen körperlichen Fähigkeiten anpassen!“

 

Das Video seines Sponsors BBVA zeigt Carlos Soria bei seiner Besteigung der Annapurna 2016

 

Wenn er solche Sätze sagt, spricht Carlos Soria aus Erfahrung: „Mir ist klar, dass ich nicht mehr wie die jungen Bergsteiger die schwierigsten Routen auf den Gipfel nehmen kann. Was soll’s, nehme ich halt die normalen Routen.“ Er sei zwar nie der Letzte auf dem Gipfel, „aber ich brauche auch nicht der Erste zu sein“.

Selbst wenn es bei seinem Versuch, der älteste Mensch der Welt zu werden, der alle Achttausender bestiegen hat, auch um einen Rekord geht, glaubt man Carlos Soria, wenn er sagt: „Ich war immer ein sehr vorsichtiger und bedachter Bergsteiger. Mein vielleicht wichtigster Rekord ist es, dass ich niemals gerettet werden musste, immer mit eigener Kraft den Berg herunterkam und noch alle Finger und Zehen habe.“

Mit „viel Respekt“ unternimmt Carlos Soria nun auch einen neuen Versuch, den Dhaulagiri Himal zu besteigen, seinen zweitletzten Achttausender. Er trainiert jetzt noch mehr als sonst. Schon seit Wochen schläft er in einer aufblasbaren Druckkammer. So soll in diesem Jahr sein Projekt erfolgreich beendet werden. Nur die Finanzierung macht ihm ein wenig Sorgen und ob die chinesischen Behörden ihm aufgrund der Corona-Pandemie ein Visum geben. „Ich weiß nicht, ob es an meinem Alter liegt, aber es fällt mir schwer, Sponsoren zu finden.“ Notfalls will er sich Geld leihen. „In meinem Alter hat man keine Zeit mehr zu verlieren.“

Ob er nach seinem Weltrekord mit dem Bergsteigen aufhört? „Warum sollte ich?“, antwortet er. „Vielleicht werde ich keine Achttausender mehr besteigen. Aber mit dem Bergsteigen werde ich weitermachen, bis mein Körper basta sagt.“ 

Wer verfolgen will, ob Carlos Soria sein Ziel erreicht, kann das auf Twitter oder Youtube machen.

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