Klettern in der Natur am Arlberg
Foto: Ray Demski
Bei Minusgraden an die Wand statt auf die Piste? Für die Spitzenalpinisten Barbara Zangerl und Alexander Luger ist das die logischste Sache der Welt.
Simon Schöpf für das Bergweltenmagazin Februar/März 2020
Ein Bilderbuchtag am Arlberg, die Wiege des Skisports strahlt wie aus einem Hochglanzprospekt: wolkenloser Himmel, solide Schneelage, 305 Kilometer Pisten. All das interessiert Barbara Zangerl und Alex Luger allerdings überhaupt nicht. Ihr gemeinsamer Fokus liegt einzig auf dem 20 Meter hohen, senkrechten Felsriegel vor ihnen.
Oder besser gesagt auf der Frage, wann die Sonne endlich über den Albonagrat wandern wird, um der Wand am Flexenpass in Vorarlberg ihre wärmenden Strahlen zu spenden. Derweil ziehen sie geduldig ihre dicken Daunenjacken enger, gönnen sich noch einen Schluck Kräutertee aus der verbeulten Thermoskanne und prognostizieren stoisch: „De kommt scho glei. “Die Skifahrer werden sich heute wieder an Liftkassen anstellen, zu Mittag um die besten Terrassenplätze rittern.
Von diesem Trubel bekommen Barbara und ihr Seilpartner Alex keinen Deut mit, hier im großen Schneefeld unter der Felswand herrscht nur Ruhe und Einsamkeit. Das Credo: kalter Fels statt volle Piste. Klettern und Winter, in dieser Kombination inkludiert das für die meisten Menschen die wohltemperierte Halle mit ihren bunten Kunstharzgriffen. Sich am eisigen Kalk die Finger abzufrieren erscheint ähnlich abwegig wie Rodeln im Sommer. Für Barbara und Alex ist es aber die normalste Sache der Welt.
„Für harte Routen brauchst du kühle Temperaturen und trockene Luft. Dann ist auf den kleinen Griffen der Grip besser, in der Hitze würdest da nur runterrutschen“, erklärt Alex. Die beiden wissen, wovon sie sprechen. Sie gehören zu den besten Kletterern des Landes, nein: der Welt.
Barbara „Babsi“ Zangerl zählt zum engen Kreis der Vertikalathletinnen, die eine Route im astronomischen Schwierigkeitsgrad 9a Rotpunkt durchsteigen konnten, nämlich „Speed Intégrale“ am Voralpsee – ein Meisterstück der Felslegende Beat Kammerlander. Dazu kommt ihr Ruf als eine der besten Allrounderinnen der Szene, von Yosemite bis in die südafrikanischen Rocklands.
Aufgewachsen ist die Weltenbummlerin allerdings ganz in der Nähe, einmal über den Arlbergpass und ein paar Dörfer rein nach Tirol, in Strengen. Sieht man ihr zartes Gesicht mit dem ewigen Lächeln, würde man ihr solche Superkräfte gar nicht zuschreiben, doch unter vielen der anspruchsvollsten Alpintouren der Alpen steht ihr Name, mit dem Zusatz „FFA“: first female ascent, die erste Wiederholung durch eine Frau.
Was ihr 2019 auch den Titel „Adventurer of the Year“ von „National Geographic“ einbrachte. Alex Luger, Vertikalathlet von der hiesigen Seite des Arlbergs, ist in seiner Vorarlberger Heimat „bis auf ein paar Projekte so ziemlich alles geklettert, was es gibt“, inklusive bohrhakenfreier Erstbegehungen im haarsträubenden Schwierigkeitsgrad 8b+ („Psychogramm“, Bürser Platte).
Deshalb geht er einer Sache mit besonders großer Leidenschaft nach, nämlich klettertechnisch und moralisch anspruchsvollste Neurouten mit seiner Hilti zu erschließen.
Der Rasiermesser-Fels
Langsam füllen sich im Hintergrund die Pisten, bei jedem Schwung auf der Albona erstrahlt eine goldige Fahne Neuschnee im morgendlichen Gegenlicht. Noch ein Schluck Tee, dann blinzeln endlich auch hier die ersehnten ersten Sonnenstrahlen über den Horizont, und Alex wird augenblicklich enthusiastisch: „Goht scho, Babsi, jetzt wird a’grissa!“
Als ob sich ein Riese mit einem Rasiermesser ein gelbes Stück Kalk für sein Jausenbrot abgeschnitten hätte: Die Wand am Flexenpass in Vorarlberg ist glatt und steil. „A brutales Ding, in der ganzen Wand gibt’s keinen Griff, der größer is als eineinhalb Fingerkuppen. Und alle fühlen sich an, als ob lauter kline Nädeli drauf wären“, charakterisiert Alex den Klettergarten im charmanten Vorarlbergerisch. Rasiermesserscharfe, mikroskopisch kleine Leisten also – kein Wunder, dass die Routen nicht abgespeckt sind, selbst die Aufwärmtour ist mit dem oberen achten Schwierigkeitsgrad außer Reichweite für die meisten Hobbykraxler.
Ein paar verhaltene Dehnübungen für die eingefrorenen Gelenke, das Seil wird aus dem Rucksack, die Kletterschuhe aus dem Innersten der Daunenjacke geholt. „Ein guter Trick für den Winter“, grinst die Tirolerin und schlüpft in die vorgewärmten Schuhe. Achterknoten ins Seil, und los geht’s – allerdings erst mal langsam, der Fels ist trotz Sonne noch eiskalt. Immer wieder pausiert Babsi, pustet warme Luft auf die Finger, schüttelt die Arme – der Kreislauf muss in Schwung kommen, das warme Blut bis in die kalten Fingerspitzen.
Durch die südseitige Ausrichtung merkt man eine leichte Thermik – bald darauf fliegt Babsis Longsleeve von oben herunter. Klettern im T-Shirt, sichern in der Daunenjacke: Das ist der bizarre Dresscode beim Winterklettern.
Während sich Babsi in der Wand aufwärmt, entschlüsselt Alex das Prachtpanorama Richtung Westen: „Links die Rückseite der Kirchlispitze mit dem berühmten ‚Silbergeier‘. Rechts die Drusenfluh mit der Gelb-Eck-Wand, wo meine ‚The Gift‘, 8c, ist. Und weiter links noch mein Projekt, die steilste Wand, wo i kenn“, sagt er.
„Woa, isch des scharf!“, klingt es von oben herab. Babsi ist in der Schlüsselstelle der Route angekommen, ein komplexer Bewegungsablauf an Seit- und Untergriffen in Miniaturformat. Aber ihr Motor ist inzwischen warmgelaufen, und sie zeigt, was sie draufhat: Elegant überwindet sie auch diese Stelle, ist beim Umlenker angelangt. „De musst scho gscheit anpackn, de Griff“, kommentiert Babsi die Tour mit dezentem Understatement.
Während Alex sie langsam Richtung Boden abseilt, sucht sich eine Gruppe Freerider im Hintergrund ihre Spur. Mittagszeit, die Skifahrer werden sich wohl bald um einen Platz in einer der vollen Skihütten bemühen. Babsi und Alex packen hingegen mit einem entspannten Grinsen ihr Jausenbrot aus und lehnen sich an die wärmende Wand am Flexenpass – der Logenplatz ist ihrer allein.
Sie diskutieren Sommerpläne, es fallen Namen wie Eigernordwand, Peru, Madagaskar. Eine auffrischende Windböe erinnert aber doch wieder daran, dass ja eigentlich Winter ist. Macht nichts, das bisschen Tee in der verbeulten Thermoskanne ist noch warm.
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