Klettern und Baden in Flims
Erst die steilen Felswände des «Pinut» hochkraxeln, dann ins karibikblaue Wasser des Caumasees springen: ein perfekter Sommertag in Flims.
Üsé Meyer für das Bergweltenmagazin August/September 2018 aus der Schweiz
Dann stand die Mutter unten vor dem Haus und zitterte, betete und weinte. Wie leicht könnte der Vater über den Abgrund in die Tiefe stürzen.» In seiner Erzählung „Fein selvadi“ schildert der rätoromanische Schriftsteller Gian Fontana (1897–1935) aus Fidaz, wie der 14-jährige Sohn namens Rest mit seinem Vater das erste Mal zum Wildheuen auf den Pinut muss. Denn dort, hoch über dem Bergdorf Fidaz, befand sich ein Grasband, das der armen Bauernfamilie das nötige Heu lieferte, um ihre einzige Kuh sicher über den Winter zu bringen.
„Nur durch eine gefährliche Kluft war ein Hochkommen möglich“, erzählt Fontana weiter. „Todesangst überfiel Rest bei dem Gedanken, diese schreckliche Felswand erklettern zu müssen.“ Und genau vor dieser Felswand stehen wir jetzt, hier wollen wir hoch. Todesangst befällt uns jedoch nicht. Denn aus dem bedrohlichen Weg der Wildheuer ist ein einfacher Klettersteig entstanden – wohlgemerkt, der älteste noch bestehende in der Schweiz: 1907 wurde er eröffnet und 2007 umfassend renoviert.
Der Pinut führt aber nicht nur zum gleichnamigen Grasband, sondern noch weiter den Fels hoch, über die zweite Terrasse, Pardatsch, bis zur Hochebene des Flimsersteins.
„Klick, klack“, die beiden Karabiner des Klettersteigsets werden am Drahtseil eingehängt, dann geht es eine Eisenrohrleiter den Fels hoch und anschließend weiter über Stahltreppen. Die beiden 12-jährigen Freundinnen Noreen und Nalani legen auch ein beachtliches Tempo vor. Gequasselt wird ausnahmsweise kaum, nur mal ein Oh oder ein Ah lassen sie verlauten.
Und dann ein Ups: Sie stehen vor einer der wenigen Passagen des Klettersteigs, die nicht über Stahltreppen gehen, sondern die Wand auf einem schmalen Felsband queren.
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Mut sammeln, „klick, klack“, weiter geht’s – mit schwindelerregendem Tiefblick der Wand entlang und am Meilerstein vorbei, einer frei stehenden Felsnadel. Dann ein „Woah, cool“. Noreen und Nalani sind beim rund 20 Meter langen, natürlichen Felstunnel angelangt, wo es kurz darauf sehr eng und ziemlich dunkel wird. Wieder draußen im gleißenden Sonnenlicht sind wir schon auf der ersten Terrasse angelangt, dem Pinut – wo die ehemalige Heuwiese heute größtenteils bewaldet ist.
Doch einige Bäume gab es hier früher auch schon, wie Gian Fontanas Erzählung zu entnehmen ist. Als Rest und sein Vater das Heu beisammenhatten, wurde eine Tanne gefällt, entastet und die Heuballen daran festgezurrt. „Mit den Beinen stoßen sie an der Tanne, bis alles in Bewegung gerät und über den Abgrund in den darunterliegenden Wald fällt.“ Bebildert wurde Fontanas Geschichte vom Künstler Alois Carigiet, der aus der Region stammt und vor allem wegen seiner Illustration für das Kinderbuch „Schellen-Ursli“ bekannt ist.
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Alois Carigiet wird uns am heutigen Tag nochmals begegnen. Nämlich beim Abendessen im Restaurant Cavigilli: Dort hat der Künstler die Decke einer der zwei kleinen, schmucken Gaststuben gestaltet. Das Restaurant befindet sich in einem der ältesten Häuser von Flims; um das Jahr 1450 wurde es erbaut und vor drei Jahren von Sergio Leoni, 39, und Letizia Rasom, 32, übernommen.
„So eine winzige Restaurantküche wie hier hatte ich bisher noch nie gesehen“, erinnert sich Sergio an den ersten Besichtigungstermin. Derart klein ausgefallen ist die Kombüse, weil das Haus bei seiner letzten Renovation eigentlich als Café geplant war. „Aber das ist super funktional, ich muss mich beim Kochen kaum noch bewegen“, sagt Sergio.
Das Wirtepaar stammt aus den Bergen Norditaliens, weshalb ihre Speisekarte genauso alpin-mediterran geprägt ist und dafür Zutaten aus der Region wie auch aus Italien verwendet werden. Als „primo piatto“ bietet sich etwa ein Risotto mit Schweizer Erdbeeren an reduziertem Balsamico aus Modena mit Berghonig an. Und als „secondo“ empfiehlt der Küchenchef Kalbsroulade mit Parma-Rohschinken und frischen Steinpilzen aus dem Bündnerland. Aber zurück an den Berg.
Nächster Halt: Karibik
„Iiiiiih!“ Während unserer Trinkpause auf der Pinut-Terrasse entdeckt Nalani, dass sie direkt neben den Gebeinen einer Gämse sitzt, die anscheinend hier verendet ist. Dies ist das Zeichen für uns, aufzubrechen, den steilen Wald hinauf bis zum zweiten Felsband, wo es wieder größtenteils über Stahltreppen nach oben geht – bis Pardatsch, der nächsten bewaldeten Steilterrasse.
Hier legen wir im Schatten der Bäume ein gemütliches Picknick ein und machen uns schließlich an die dritte und letzte Felsstufe hinauf auf den Filmserstein. Diese ist einfach zu bewältigen; und zuoberst angekommen, sind sich die beiden 12-jährigen Freundinnen einig: „Der unterste Teil des Klettersteigs war der coolste.“ Ihr Urteil stimmt insofern, dass für all jene, die den Nervenkitzel lieben, der Höhepunkt des Steigs schon im ersten Drittel kommt.
Allen anderen gibt es dafür die Sicherheit, dass sie – sobald der unterste Abschnitt geschafft ist – weiter oben, wo eine Umkehr problematischer wäre, nicht in Schwierigkeiten kommen werden.
Das Panorama von hier oben ist einnehmend: Unzählige Gipfel sind zu sehen – vom Piz Bernina über die Signinagruppe, den Piz Terri bis zum Aletschhorn, im Tal die Ortschaften Trin und Flims sowie das Glitzern der beiden Badeseen Crestasee und Caumasee. Ins angenehme Nass des Letzteren werden wir nach der Anstrengung von heute auch noch abtauchen.
Der Caumasee wird aufgrund seiner charakteristischen Farbe, die von Hellgrün über Türkis bis ins Tiefblaue geht, zu Recht als „Karibik der Alpen“ bezeichnet. Und seine «Isla» wurde 2017 vom Heimatschutz zu einer der schönsten Inseln der Schweiz gekürt.
Vom Ausstieg des Klettersteigs führt uns ein Wanderweg zur Alp Flimserstein, wo es Sitzplätze mit Aussicht und einen Selbstbedienungskiosk gibt. Die Sennen, alle Mitte 20 und aus dem Appenzellischen, erklären uns, dass dies mit 400 Hektar Weidefläche eine der grösßen Alpen der Schweiz sei. Danach geht es bergab über die „Scala Mola“ nach Bargis. Dieser mit Steinen gepflasterte Pfad diente bereits im 17. Jahrhundert als abenteuerlicher Viehweg und geht aufgrund seiner Steilheit ziemlich in die Beine.
Diesen gönnen wir unten im Berghaus Bargis eine Pause und genießen bei einem würzigen Andutgel-Salsiz den pittoresken Blick ins Hochtal von Bargis. Das Wildheuen haben Rest und sein Vater übrigens überlebt.
Gian Fontanas Erzählung endet so: „Zehn Tage blieben sie oben. Dann müssen sie absteigen. Für Rest wieder ein Tag voller Angst und Schrecken. Glücklicherweise geht es auch diesmal gut. Die Kuh muss nicht verkauft werden. Von Zeit zu Zeit jedoch schaut Rest voller Grauen zur Felswand hinauf: Ob er wohl bereits an das kommende Jahr denkt?“
Auch wir schauen auf der Rückfahrt mit dem Postauto von Bargis nochmals zur Wand hinüber. Kommendes Jahr wieder dort hoch? Ein breites Lächeln huscht über unsere Gesichter.