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Dem Alltag entwischt

Weitwanderin Christine Thürmer im Portrait

• 10. Oktober 2024
3 Min. Lesezeit

Keine Frau ist weiter gewandert als Christine Thürmer: Mehr als 62.000 Kilometer hat die Bayerin aktuell in den Beinen. Dabei widerspricht sie allen gängigen Klischees einer Sportskanone.

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Foto: Astrid Dill
Christine Thürmer
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Text: Dominik Prantl

Das ist die „meistgewanderte“ Frau der Welt? Zumindest verspricht das ja ihre Website. Wenn Christine Thürmer bei einem ihrer Termine auftaucht, auf Vorträgen oder Lesungen, ist die übliche Reaktion gerne einmal ungläubiges Mustern von Kopf bis Fuß. Die Skepsis sei schon verständlich, sagt sie, schließlich habe sie Plattfüße, X-Beine und fünf Kilo Übergewicht, mindestens. Schon im Schulsport war der Vierer ihre Standardnote, einmal sei sie mangels Gleichgewicht sogar vom Schwebebalken gefallen. Sie sei auch keine geborene Kraxlerin oder Abenteurerin. „Aber einen Fuß vor den anderen setzen, das kann auch ich.“ Das kann jeder.

Thürmer ist der Gegenentwurf zu all den grellbunt gekleideten Hochglanzmodels der Bergsportindustrie; wer ihr zuhört, der wird endlich wieder daran erinnert, dass es sich beim Wandern um die demokratischste aller Bergsportarten handelt. Ob Trainingsprogramme, Ausrüstung, Traumziele – sie hat zu allem eine eigene, durchaus selbstironische Meinung. Auch ihr Wohnort ist alles andere als naturnah. Er liegt in einem elfstöckigen Plattenbau im nicht unbedingt bestens beleumundeten Berliner Stadtteil Marzahn. „Kostet dafür nur 250 Euro pro Monat.“ Thürmer ist zwar mehrfache Bestsellerautorin – aber deshalb Geld verprassen, wenn man die Hälfte des Jahres ohnehin in der Welt umherwandert?

Dabei hat die gebürtige Fränkin früher gut verdient, sehr gut sogar. Nach ihrem Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation war sie viele Jahre in der Unternehmenssanierung tätig. Sie fuhr ein schickes Auto und lebte eben das Leben einer jungen, dynamischen Karrierefrau – bis ein enger Freund, 46 Jahre erst, von einem Gehirnschlag überrascht wurde. Beim nächsten gemeinsamen Essen ging es nicht mehr in ein Berliner Szenelokal. Stattdessen band sie ihm im Krankenhaus ein Lätzchen um. Und ihr war eine der großen Fragen vieler Industrieländer- Menschen über die wichtigste Ressource beantwortet worden: „Nicht Geld. Sondern Lebenszeit.“ Mit vierzig wechselte sie vom Alltagstrott in die Weitwanderbranche.

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Die erste Botschaft

Anfangs habe sie keine Ahnung gehabt, von gar nichts. Inzwischen könne sie zehn Seiten nur über Trekkingstöcke schreiben. Es geht aber auch kürzer, ihre erste Botschaft lautet beispielsweise: Es kommt nicht auf das Training an – „was man braucht, ist die mentale Einstellung“. Beim Weitwandern sei es „scheißegal“, ob man am ersten Tag 10, 20 oder 30 Kilometer schafft: „Die körperliche Fitness kommt unterwegs.“ Sie selbst wandere eher gemächlich, dafür von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, 12, 13, bis zu 14 Stunden am Tag, und das über Monate hinweg.

Schon früh machte sie die drei großen Trails der USA: den Appalachian, den Pacific Crest und den Continental Divide Trail. Inzwischen hat sie 62.000 Wanderkilometer in den Beinen, viele davon in Gebirgen, einen guten Teil auch im Flachland, das nur scheinbar weniger zu bieten hat.

Damit gleich zur nächsten Botschaft: den Weg nicht nach Bekanntheitsgrad wählen, sondern nach persönlichen Kriterien. „Viele Leute fallen auf die gleichen Mechanismen herein, denen sie zu entfliehen versuchen.“ Dazu müsse man sich nur ein paar Fragen stellen: Soll es die pure Wildnis sein oder Kulturlandschaft? Alpin oder fach? Möglichst billig oder eher luxuriös? Im Balkangebirge könne man etwa mit kleinem Budget wesentlich mehr Spaß haben als auf den stark frequentierten Alpenrouten. Sie selbst ist auch viel lieber abseits der Massen unterwegs und beispielsweise ein großer Fan des bulgarischen Bergwanderwegs Kom–Emine oder des Sentiero Italia.

Und eine Botschaft geht noch: Wanderklamotten müssen nicht teuer sein. „Dieser Ausrüstungsfetischismus lenkt vom Eigentlichen ab“, sagt sie. Ihre Regenjacke koste beispielsweise 7,99 Euro, und eine neue brauche sie erst, wenn die alte auseinanderfällt. Sponsoren lehnt sie ohnehin ab, „da verkauft man nur seine Seele“.

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Foto: Christine Thürmer
Es braucht nicht viel, um die Welt zu entdecken: Christine Thürmer mit ihrer Wanderausrüstung samt Zelt.

Couscous und Bulgur

Ganz entscheidend sei das Gewicht der Ausrüstung: Sechs von sieben Tagen übernachtet sie draußen, das gesamte Gepäck mit Zelt, Schlafsack und Gaskocher dürfe trotzdem nicht mehr als fünf Kilogramm wiegen, ohne Wasser und Proviant. Bei Letzterem setzt sie auf Couscous, Nudeln und Bulgur, wegen der hohen Nährwerte bei geringem Gewicht und kurzer Kochzeit. „Diese Packungen mit Astronautennahrung esse ich sicher nicht.“ Reine Abzocke, auch wenn sie das freundlicher formuliert.

Thürmers Freude am Sparen ist ein eigenes Kapitel. Ihr Credo: Jede Münze zweimal umdrehen. Auf dem Weg zum Nordkap hatte sie ihr „schlimmstes Erlebnis“ – man ist sich nicht sicher, ob sie das ironisch meint oder doch todernst. Jedenfalls hat sie an ihrem Geburtstag 45 Kilometer absolviert, um abends noch die einzige Tankstelle weit und breit zu erreichen. Und was kostete dort die billigste Schokolade? Fünf Euro! „Ich habe dann mit Knäckebrot gefeiert.“

Christine Thrümer deshalb für verbissen zu halten wäre aber ein großer Fehler. Sie lacht viel, meist über sich selbst. Etwa darüber, dass sie einst ihre Dissertation zum Thema „Wie man einen Bestseller vermarktet“ nie abgeschlossen hat. Inzwischen hat sie vier Bücher geschrieben, alle wurden Bestseller. Auch wenn es nie ihr Plan war, mit dem Wandern Geld zu verdienen, könne sie mit ihrem Ersparten jetzt immerhin 92 Jahre alt werden statt nur 90.

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