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Das steirische Gesäuse

Regionen

8 Min.

10.09.2021

Foto: Andreas Jakwerth

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Steile Wände im Norden, sanfte Almen im Süden, mittendrin das Hochtor, der höchste Gipfel, und rundum wildes Wasser, das den Sound zu den Geschichten aus dem steirischen Gesäuse liefert.

Christina Geyer für das Bergweltenmagazin August/September 2019

Es gibt Geschichten über Berge, Berge mit Geschichte – und Berge, die selbst Geschichte schreiben. Das Hochtor ist ein solcher Berg. Mit 2.369 Metern krönt es die Hochtorgruppe im steirischen Nationalpark Gesäuse und ist zugleich auch die höchste Erhebung der Ennstaler Alpen – jener Gebirgsgruppe, die einen gewissen Heinrich Heß 1884 zur Herausgabe des ersten Gebirgsführers in der Alpingeschichte veranlasste. „Gesäuse und Ennstaler Berge“, so der Titel des Ahnherrn der deutschsprachigen alpinen Führer.

Über das Hochtor liest man, es gehöre „zu den großartigsten Schaustücken der Kalkalpen überhaupt“. Insbesondere die Nordflanke des Hochtors, die Dachl-Nordwand, begründet den Mythos Xeis.


Tausend Meter senkrecht

In der Dachl-Nordwand spiegelt sich wider, wofür das Gesäuse berühmt und berüchtigt ist: Die Nordwand mit ihren knapp tausend Metern an senkrechtem Fels scheint wie mit dem Lineal angelegt. Der Höhenunterschied zwischen Enns und Hochtorgipfel beträgt stattliche 1.800 Meter.

Die Touren sind anspruchsvoll, einige Anstiege würden nicht einmal von den schwierigsten Klettereien in den Dolomiten übertroffen, schreibt Heß in seinem Führer. Ihre Exposition macht die Wand dunkel und kalt, wild und furchteinflößend.

Technik allein qualifiziert dafür noch nicht: Man sollte ein gewisses Faible für einen Flirt mit dem Abenteuer mitbringen. Achtundzwanzig Seillängen, zwei Zwischensicherungen, brüchiger Dolomit – davon erzählen Kletterer, wenn man sie nach ihren wildesten Erfahrungen in der Wand fragt.

Das Gesäuse gibt Kraft, allerdings muss man es sich auch verdienen. Die Touren sind lang, steil und schweißtreibend. Dafür übertrifft es, wie selbst der weitgereiste Alpinist Paul Preuß (1886–1913) konzedierte, „alles andere an Schönheit und Großartigkeit“.

Als Teil der Ennstaler Alpen gehören die Gesäuse-Berge bei Admont in der Obersteiermark den Nördlichen Kalkalpen an. Die Hochtorgruppe baut sich südlich der Enns auf, jenem reißenden Wildfluss, der sich auf einer Strecke von 16 Kilometern ein enges Durchbruchtal zwischen Admont und Hieflau geschlagen hat.

Links und rechts davon dominiert der schroffe Fels von Buchstein-, Reichenstein- und Hochtorgruppe das Landschaftsbild. „Auch als Normalsterblicher darf man mitnaschen“, beruhigt David Osebik, Geschäftsführer des Tourismusverbands Gesäuse, „selbst wenn man weiß, dass es immer noch einen schwierigeren Weg über die verfluchten Berge gibt.

Jeder, der sich unserer Region mit Demut nähert, wird genug Angebot finden, um einen vierzehntägigen Urlaub hier zu verbringen.“ In Demut drückt sich Wertschätzung für diese wilde, artenreiche Landschaft aus. Dass es diese Schatzkiste zu beschützen gilt, wurde 2002 mit der Eröffnung des Nationalparks Gesäuse besiegelt.

Er gilt landesweit als Hotspot für Endemiten (Tiere und Pflanzen, die nur in begrenztem Gebiet heimisch sind); über hundert sollen es sein. Der Nationalpark sorgt für ihren Schutz – und für die Nachhaltigkeit in der Region. Mit ihm tun sich neue Arbeitsplätze auf, insbesondere im Tourismus. „Es geht um die richtige Form“, sagt David, „um Klasse statt Masse.

Sonst sinkt die Qualität.“ Dass es im Nationalpark Gesäuse keine Luxushotels und Aufstiegshilfen, Massenabfertigung und Fertigprodukthütten gibt, versteht man nicht als Manko, sondern als Chance. Traditionell gilt das Gesäuse als „Universität des Bergsteigens“, und seine Absolventen sind auch heute Pioniere.

Beispielsweise der Höhenbergsteiger und als Skyrunner bekannte Christian Stangl oder der Bergführer Hans-Peter „Shippy“ Scheb. Von ihm heißt es, er sei selbst ein Gesäuse-Endemit: „Weil den Shippy, den gibt’s auch nur hier.“


Das erste Gesäuse-Groupie 

Das Hochtor ist für ihn „ein Berg mit vielen Anstiegen, und keiner ist leicht“. Selbst der einfachste, der versicherte Josefinensteig, ist eine anspruchsvolle Unternehmung. Die Erstbegehung des Hochtors dürfte, wie bei den meisten Gipfeln im Gesäuse, Bauern, Jägern und Wilderern gelungen sein. 

Einer, der regelmäßig in die Hochtorgruppe einstieg, war der Holzknecht Andreas Rodlauer. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, gilt er als eigentlicher Vater des Gesäuses. Seinen ersten touristischen Aufschwung erlebt das Gesäuse 1872. 

Mit der Kronprinz-Rudolf-Bahn ist Admont schlagartig in einer Nachtfahrt von Wien aus erreichbar. So kommt auch Heinrich Heß dorthin. Weißer Stehkragen, Krawatte, Gamaschen – ein distinguierter Dandy aus guter Familie und das erste Gesäuse-Groupie: Er schreibt den ersten Führer über die Berge im Ennstal und findet im ortskundigen Holzknecht Andreas Rodlauer einen kongenialen Bergkameraden.

Am 11. Juni 1877 gelingt ihnen die Begehung des Peternpfads, einer „schwierigen“ Felstour, die „zu dem Großartigsten“ gehöre, „was die Nördlichen Kalkalpen bieten“, wie Heß wenige Jahre später notierte. Über 2.000 Höhenmeter gilt es in leichter Kletterei bis zum Hochtorgipfel zu überwinden.


Einst Fluchtweg, heute Klassiker 

Um den Peternpfad rankt sich die Legende vom Schwarzen Peter, einem Wilderer mit geschwärztem Gesicht, der die Wandfluchten als Durchschlupf zu nutzen weiß: Immer wieder gelingt dem Unbekannten auf unerklärliche Weise die Flucht mit seiner Beute. 

Heute weiß man, dass es sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um Andreas Rodlauer gehandelt haben muss. Die Niederschriften von Heß verraten, dass der Holzknecht 1877 wohl nicht zum ersten Mal über den Peternpfad in die Hochtorgruppe einstieg, denn er „kannte das Gelände vortrefflich, und er führte uns gewandt und in sehr flotter Gangart“.

Der mutmaßliche Fluchtweg Rodlauers ist heute ein Alpinklassiker im Gesäuse. Denn auf ihm erreicht man das Hochtor auf einem seiner lohnendsten Anstiege: Der Peternpfad ist ein Kompromiss aus Klettertour und Bergsteigen, ein Xeis-Destillat in Reinstform, der die Erinnerung an den Schwarzen Peter am Leben hält, genauso wie die Heßhütte an Heinrich Heß denken lässt.

Sie liegt auf 1.699 Metern am Fuße des Hochzinödls, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hochtor und Planspitze. 1893 wurde sie erbaut, auf Initiative der Alpenvereins-Ursektion D’Ennstaler. Ganz so weit reicht die Geschichte vom heutigen Pächter, Reinhard „Reini“ Reichenfelser, nicht zurück, aber immerhin doch bis 1981. 

Mit dreizehn Jahren wird Reini während der Sommerferien als „Bua“ engagiert: Jeden zweiten Tag steigt er mit bepacktem Pferd auf den Ennsecksattel und beliefert die Hütte. 1990 übernimmt Reini die Pacht, „seitdem bin i do“, sagt er. Reini macht keinen Hehl daraus: Er braucht die Heßhütte. 

Und die Heßhütte braucht ihn. Eine Hütte ist bekanntermaßen immer nur so gut wie ihr Wirt. Gäbe es eine Parade für Bilderbuchwirte, Reini würde sie anführen. Die Einheimischen gehen nicht auf die Heßhütte, sie „besuchen den Reini“. Und der Reini ist stets gut besucht. Aber „überrennt“ ist es noch nicht, „weil’s schwierig ist. 

Hoch mag das Xeis nicht sein. Aber es beginnt verdammt weit unten“, befindet Reini. Und zapft mit der ihm eigenen Gemütlichkeit drei große Bier. Das Gesäuse hat aber auch noch eine andere Seite. Im Süden zeigt es sich ganz zahm: blumenreiche Almen, dichte Wälder, dahinplätschernde Bächlein. 

Von der Heßhütte aus steigt man dorthin ab und landet im Bergsteigerdorf Johnsbach, einer 150-Seelen-Gemeinde „am schönsten Ende der Welt“, wie es unter den stolzen Bewohnern heißt. Aus Johnsbach gibt es nur einen Weg zurück in die Zivilisation – und der führt erst einmal serpentinenreich hinab nach Gstatterboden.

Es gibt aber gute Gründe, diesen Weg zurück nicht allzu schnell anzutreten. Die Hochtorgruppe hat die Heßhütte – und Johnsbach den Kölblwirt. 1781 wurde der „Kölbl“ erstmals erwähnt, seit Generationen befindet sich der traditionsreiche Gasthof in Familienbesitz. 

Zurzeit versammeln sich vier Generationen dieser Familie unter seinem Dach. Der Kölblwirt ist der Bergsteigergasthof im Gesäuse: Gäbe es hier einen Dresscode, es wäre wohl der Materialmix von Softshell, Merino und Fleece. Und weil es hier eben zünftig zugeht, ist auch die Küche klassisch, traditionell, bodenständig.

Auf der Terrasse sitzt man nicht nur in der Sonne, sondern auch unmittelbar neben dem Stall. Noch näher dran kann man nicht sein an hauseigener Biolandwirtschaft. Die Mehlspeisen werden von der „Mammi“, der 87-jährigen Großmutter, zubereitet. Sie besteht darauf. 

Das hält sie frisch und jung, ist Ludwig „Wick“ Wolf sicher. Auch den Strudelteig macht die „Mammi“ selbst, „ohne die Fertigg’schichten. Sie zieht den Teig noch aus“, erzählt Wick. Das Schönste am Wirtsein? „I darf bei der Wirtin schlafen.“ Und er mag seine Gäste. „Wir leben ja nicht vom Zufallstourismus. Die Leute, die zum Kölblwirt kommen, die kommen bewusst und sind zufrieden mit dem, was es hier gibt.“

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Obstsaft vom Veitlbauer

Das sehen die Gäste der „Hoamat“ in Großreifling bei Altenmarkt, dem Lokal von Bianca Rohrer und Ulrich „Uli“ Matlschweiger, wohl genauso. „Paarl sind wir keins. Genau deshalb funktioniert’s so gut!“, lacht Bianca. Ein Gastro-Traumpaar sind sie allemal. Nach Cola oder Fanta braucht man in der Hoamat gar nicht erst zu fragen. 

Die Alternativen sind aber reichlich vorhanden. Uli und Bianca arbeiten mit vierzig Produzenten aus der Region zusammen. Und der Chef rückt sogar persönlich aus: „Was hast’n grad?“, erkundigt sich Uli vor Ort – und nimmt mit, was er bekommt. 

Später hievt er dann kistenweise neue Obstsaftkreationen vom Veitlbauer durchs Lokal. Die schmackhaften Buns für den Gesäuse-Burger haben Uli und Bianca in Teamarbeit mit dem hiesigen Bäcker entwickelt. Und weil es kein steirischeres Gastro-Gütesiegel gibt als Kürbiskerne, sind jene die Zauberzutat im Hoamat-Burgerbrot. 

Zwischen die Buns legt Uli feinstes Styria-Beef und streicht eine Sauce aus Apfel, Senf, Mayonnaise und Kren hinein, dazu gibt es Kartoffelecken. Weitere Fixstarter auf der Speisekarte der  Hoamat sind das Saiblingsfilet mit Waldstaudenreis, die Steirerkassuppe mit Schwarzbrotcroutons und Gnocchi mit Kürbiskernpesto, Kirschtomaten und Kuhmilchfrischkäse.


Irgendwo im Nirgendwo

So ungern Uli den Löffel aus der Hand gibt, so ungern tut dies Lukas Strobl mit seinen Paddeln. Auch das ist das Gesäuse: wildes Wasser, nicht nur steiler Fels. Immerhin ist das beständige Rauschen der Enns verantwortlich für die Namensgebung der Region: Gesäuse, weil es hier eben immer beständig säuselt.

Lukas Strobl hat sich auf die Horizontale verlegt und leitet gemeinsam mit seinem Bruder Christoph das Unternehmen AOS (Adventure Outdoor Strobl). Denn auf der Salza warten über vierzig Kilometer an unreguliertem Wildwasser. „Das gibt es so in Österreich eigentlich nicht mehr“, schwärmt Lukas.

Enns und Salza sind die Dachl-Nordwand der Horizontalen: Statt kleiner Griffe, Tritte und Überhänge warten hier schnelle Strömungen, Wirbel und Stromschnellen. Der Reiz an diesem Sport? „Die Dynamik im Wasser. Hier steht nie etwas still, ständig ist alles in Bewegung. Im Wasser gibt es keinen Stoppknopf“, sagt Lukas.

Zudem erschließt einem die Fortbewegung im Wasser Orte, die man ohne Raft oder Kajak nicht erreichen würde. Den Bruckgraben zum Beispiel. Er zählt zu den tiefsten Schluchten Österreichs, versteckt inmitten des Nationalparks. Lukas holt zu zwei letzten Ruderbewegungen aus, dann legt er das Raft an. 

Kiesstrand und eine erst smaragdgrüne, dann fast transparente Enns, in die einer der großartigsten Canyons Österreichs mündet. „Der Bruckgraben ist einer der schönsten Spots überhaupt“, sagt Lukas und watet durch das kniehohe Wasser tiefer hinein in die Schlucht, die nur über die Enns erreichbar ist. 

Bald stehen wir irgendwo im Nirgendwo, in einer unwirklich anmutenden Welt. Von hier gibt es nur einen Weg zurück, und der führt übers Wasser. Also besteigen wir erneut das Raft und überlassen uns der Strömung. Zwischen den blendend weißen Schotterbänken treiben wir dahin, darüber erheben sich die spiegelglatten Nordwände der Hochtorgruppe.

Und wüsste man es nicht besser, so könnte man schwören: Diese Wände müssen undurchsteigbar sein.