Die Franz-Senn-Hütte in den Stubaier Alpen
Foto: Philip Forstner
Der Namensgeber ein Querkopf, der Seniorchef eine Legende, der Juniorchef ein Wirt mit Fingerspitzengefühl und breitem Buckel. Willkommen auf der Franz-Senn-Hütte in den Stubaier Alpen.
Tobias Micke für das Bergweltenmagazin Jänner 2019
Sonnenaufgang war vor einer Viertelstunde. Jetzt werden jeden Moment die Seespitz-Gipfel erstrahlen. Genau wie gestern wird es aussehen, als ob die Berge einer nach dem anderen vom Sonnenlicht wachgeküsst werden. Und auch die Franz-Senn-Hütte ist unüberhörbar erwacht.
Knarzend, knarrend und ächzend, wie es sich für das Holz von Betten, Türen und Stiegen in einem so ehrwürdigen, 130 Jahre alten Schutzhaus gehört.
homas Fankhauser, der junge Hüttenwirt, ist schon auf den Beinen. Zum einen, weil die sechs Monate alte Tochter Johanna ihr Fläschchen begehrt und Mama Beate sich mit der zweijährigen Magdalena und dem vierjährigen Matthias noch einmal kurz auf die andere Seide drehen darf. Zum anderen muss das Frühstück für die knapp hundert Frühaufsteher rechtzeitig fertig sein, die in den drei Stockwerken und ganz oben unterm Dach, im großen Matratzenlager, die Nacht verbracht haben.
Dort spielen sich jetzt Begegnungen ab, die man niemals in einem der Hotels unten in Neustift im Stubaital zu sehen bekommen würde und die hier oben dennoch ganz selbstverständlich sind.
Ob Frau oder Mann, ob Rechtsanwältin, Supermarktangestellter, Hausfrau, Arzt oder einer der vielen derzeit um die Hütte trainierenden Polizeibeamten: Halb bekleidet, in diversen Interpretationen von Unterwäsche, trotten sie schlaftrunken mit Zahnbürste, Kontaktlinsen- und Brillenbehältern und kleinen Hüttenhandtüchern von und zu den Waschräumen und plätschern sich das vom Alpenbach abgezweigte eiskalte Gebirgswasser ins Gesicht.
Ungewöhnlich wirkt diese Ferienlageratmosphäre nur für einen, der noch nie auf einer solchen Hütte war, noch dazu in einer der größten, ältesten und – mit Verlaub – auch besten Hütten der Alpen.
Franz Senn ist die Hütte im Alpein unterhalb des gleichnamigen Gletschers im Schoß der Stubaier Alpen gewidmet. Er war ein Geistlicher aus dem benachbarten Ötztal und von sagenhafter Stur- und Querköpfigkeit. Heute, mit der Patina des Rückblicks, sagen viele: ein Mann von beispielhafter Zielstrebigkeit und Weitsicht.
Senn, der blitzgescheite Tiroler Bauernsohn, der Philosophie und Theologie studieren durfte, setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen alle bürokratischen Hürden für die Ausbildung und Auszeichnung geprüfter Bergführer in Tirol ein. Sein Ziel: alpinen Tourismus in die entlegenen Täler zu bringen und so das karge Leben der Menschen dort zu verbessern. Wo andere von Wien aus vorwiegend die wissenschaftliche Erforschung der Alpen vorangetrieben sehen wollten, bemühte er sich um Geldgeber, um in den Hochalpen sichere Steige und befestigte Wege zu bauen.
Als Mitbegründer des Alpenvereins wurde ihm letztlich in den Bergen über Neustift im Stubaital, wo er als Pfarrer und Seelsorger seinen Lebensabend bestritt, von Handwerksmeister Karl Pfurtscheller ein bis heute höchst lebendiges Denkmal gesetzt: die FranzSennHütte, eine beeindruckende steinerne Trutzburg gegen Eis, Schnee, Winter und Sommer stürme. Von hier brechen alljährlich ab Mitte Februar täglich rund hundert begeisterte Skibergsteiger zu den umliegenden Gletschern und 18 Gipfelzielen auf.
Gäste seit mehr als 60 Jahren
Zwei, die diesen winterlichen Bergtourismus noch in sehr ursprünglicher Form erlebt haben, sind Gisela und Gustav Nachtigal aus Bremen. Beide sind Jahrgang 1936 und haben als noch unverheiratete 18-Jährige Vitus Falbesoner kennengelernt, der die Hütte von 1915 bis 1965 bewirtschaftete, bevor sie Heinrich und Resi Hofer, die Eltern der heutigen Seniorchefin Klara, übernahmen.
„Wir waren eigentlich jeden Sommer hier oben“, erinnert sich Gustav, der mit seiner Frau in der Stube am Stammtisch direkt beim Kachelofen sitzen darf. „Außer in der Zeit, wo unsere drei Töchter noch sehr klein waren.“
Mussten Gisela und Gustav ihr Hüttengepäck noch viele Jahre selbst schleppen, so lässt sich das heutzutage deutlich komfortabler bewältigen: Bis zum Weiler Seduck, 15 Autominuten von Neustift entfernt, erfolgt die Anreise öffentlich. Am Parkplatz Seduck kann man sein Gepäck deponieren, und die Wirtsleute transportieren es gegen ein paar Euro mittels Pistenbully und Materialseilbahn (ab der Stöcklenalm) hinauf zur Hütte – denselben Weg, den auch Speis und Trank und am Rückweg das Leergut und die Abfälle gehen. Auch Gisela und Gustav machen von diesem Service mittlerweile Gebrauch. „Mit 79 Jahren“, sagt Gustav und grinst dabei wie ein Junger, „da werden halt schön langsam die Schritte etwas kleiner.“
Warum man so lange, so oft einen so weiten und beschwerlichen Weg auf sich nimmt? „Uns gefällt’s hier ganz einfach. Auf so einer Schutzhütte, da rücken in der Stube die Leut’ zusammen. Jung neben Alt, da gibt’s keine Berührungsängste“, sagt Gustav. „Wir kennen die alten Wirtsleut’, die Klara und den Horst, schon unser Leben lang. Wir lieben die Gegend, waren auf jedem Gipfel. Und die Verpflegung“, schwärmt Gustav, „ihr werdet kaum eine Hütte mit besserer Verpflegung finden.“
Die Knödel der Seniorchefin
„Die eine Sache, die ich nie ganz aus der Hand gegeben hab“, erklärt Klara Fankhauser, während sie auf der Sonnenterrasse mit Blick auf die umliegenden Gletscher Enkeltöchterchen Johanna hoppert, „sind die Knödel, insbesondere die Speckknödel.“
Dazu muss man als Nicht-Tiroler wissen, dass Speckknödel gewissermaßen ein Referenzpunkt für jeden echten Tiroler sind. Stimmen die Speckknödel, sagt man, dann kommen die Leut’. Stimmen sie nicht, dann macht sich auch die heimische Kundschaft rar.
Klara: „Zu trocken dürfen s’ nicht sein, und auseinanderfallen dürfen s’ auch nicht. Dabei spielt die Seehöhe eine große Rolle. Denn das Wasser kocht hier oben ja schon unter 100 Grad. Das wirkt sich auch bei anderen Speisen aus, aber beim Speckknödel ist’s besonders kritisch! Da muss man sich mit den Bröseln und dem Mehl spielen.“
Und so wird bis heute bei jeder neuen Knödelmasse auf der Franz-Senn-Hütte natürlich ein Testknödel gemacht und verkostet, bevor in Menge für die Gaststube und den Kühlraum produziert wird.
Wer gut isst, der soll auch gut trinken können. Ganz nach diesem Motto ließ sich schon der in vielen Belangen legendäre Seniorchef Horst selten am falschen Fuß erwischen und hatte immer zu den Durstlöscher-Getränken auf der Karte auch ein gutes Fläschchen Wein in der Hinterhand. Eine Tradition, die Thomas Fankhauser nahtlos übernommen hat, sodass, erzählt Thomas, „wir manch eine Stammpartie – insbesondere eine aus der Schweiz – haben, die zur Zimmerreservierung auch gleich eine konkrete Rotwein-Bestellung abgibt“.
Horst Fankhauser ist viel herumgekommen. Allein in Nepal war er an die zwanzig Mal. Mit Legenden wie Wolfgang Nairz und Reinhold Messner, mit dem er 1972 um ein Haar im Schneesturm unterhalb des Manaslu (8.156m) ein Grab aus Eis und Schnee geteilt hätte. Sohn Thomas war damals zwei Monate alt. Wer sich über die bunten tibetischen Gebetsfahnen wundert, die zwischen dem Haupthaus und der Materialseilbahn im Wind flattern, der sollte diese Geschichte kennen, die Reinhold Messner in seinem Buch „Sturm am Manaslu“ niedergeschrieben hat.
Zur Jause zum Felsen
Während viele Tourengeher schon ausgeflogen sind, gehen es Gisela und Gustav gemütlich an. Ein bis zwei Stunden dauern die Touren, die die beiden in die nähere Umgebung unternehmen. Heute Vormittag geht’s hinauf in Richtung Kräulscharte, da kennen die beiden einen Felsen, auf dem es sich vorzüglich jausnen lässt.
Mit dem heutigen Material alles ein Kinderspiel, sagt Gustav. Ganz früher, er könne sich noch gut erinnern, da hatte man unter den Ski Seehundfelle, die auf Hanf aufgenäht und nur festgebunden waren. Die sind ständig verrutscht, und wenn’s blöd herging, dann musste man mitten im Hang mit eisigen Fingern zu Nadel und Faden greifen.
Die beiden 79-Jährigen sagen natürlich bei den Wirtsleuten Bescheid, wohin sie aufbrechen – wie auch die anderen Gäste sich jeden Morgen in ein eigenes Tourenbuch eintragen, damit im Fall der Fälle in die richtige Richtung gesucht werden kann.
Eingeschneit bei minus 17 Grad
Gisela und Gustav und ihre Einstellung zum Hüttenurlaub stammen aus einer Zeit, zu der die Wirtsfamilie Fankhauser gern zurückfände – zumindest teilweise, wenn es etwa um die familiäre Atmosphäre geht. Kinder um die Hütte, das war früher ganz normal. Jetzt will die junge Generation von Wirtsleuten, also Beate und Thomas, mit ihren drei Kleinen dort wieder anknüpfen.
Was im Winter nicht ganz so einfach ist. Auch, weil sich die Mentalität der Leute geändert hat. „Viele Gäste packen sofort zusammen, wenn ’s Wetter umschlägt“, sagt Thomas Fankhauser. „Andere tauchen trotz Reservierung für 20 Personen einfach nicht auf oder sagen am Tag vorher ab. Da braucht man als Wirt Fingerspitzengefühl und einen breiten Buckel.“
So viel Sitzfleisch wie Gisela und Gustav Nachtigal hat eben nicht jeder, dass er gleich zwei Wochen am Stück bucht und, komme was wolle, durchhält.
Gustav erinnert sich: „Einmal, da hat’s uns hier eine Woche lang komplett eingeschneit, als die Hofers – also Klaras Eltern – noch die Hütte geführt haben. Keiner kam rauf, keiner kam runter. Das Brot war irgendwann nach ein paar Tagen aus, und saukalt war’s, minus 17 Grad, wenn ich mich richtig erinnere. Das hält man dann nur mit so großartigen Gastgebern aus.“
- Berg & Freizeit
6 Skitouren rund um die Franz-Senn-Hütte
- Berg & Freizeit
Der Stubaier Höhenweg
- Berg & Freizeit
6 magische Orte in den Alpen
- Berg & Freizeit
Hüterin der Höchsten
- Berg & Freizeit
Richterhütte: Leben mit den Elementen
- Anzeige