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Wanderreiten auf der Mühlviertler Alm

Regionen

6 Min.

20.10.2021

Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek

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Reiten mit der Familie: Wo die Großen aufhören zu reden und die Kleinen anfangen zu schwärmen.


Autor: Sibylle Hamann für das Bergwelten Magazin Juni/Juli 2015

Es ist halb fünf in der Früh, es liegt erst fahles, hellgraues Licht über dem Hof Heimelsteiner, aber Hausherr Thomas Holzweber hat seinen Cowboyhut schon aufgesetzt. Festen Schritts stapft er hinters Haus, zur Weide hin, die sich steil den Hügel hinaufzieht. Thomas führt die Finger zum Mund und pfeift. Es klingt nicht schrill, aber doch bestimmt.


Bergab geht er nicht gern

Die Tiere dort oben auf der Weide verstehen. Eines nach dem anderen heben sie den Kopf, hier und dort ein zustimmendes Wiehern. Sie schütteln Ameisen und Gänseblümchen aus der Mähne, strecken die Beine, stehen auf und trotten mit wehendem Schweif den Hügel herunter. Die scheckige Farina. Der dunkelbraune Ricardo. Die sanfte, stämmige Lisa. Und zum Schluss der wilde Luki. Striegeln, satteln, gähnen, Hufe auskratzen, Reitkappen aufsetzen – eine Viertelstunde später trotten wir schon über den Hohlweg durch den Wald hinauf.

Das Gezwitscher der Vögel ist so früh am Morgen aufgeregter als zu jeder anderen Tageszeit. Erste Lichtstrahlen kämpfen sich von der Seite durchs Gebüsch und erleuchten einen bemoosten Stein hier, dort einen Ameisenhaufen. Man hört den Atem der Tiere. Hört, ob ihre Hufe grad den weichen Waldboden, eine Wurzel oder einen Stein getroffen haben.

Spürt, wie ihre Muskeln sich langsam erwärmen, ihr Fell feucht wird. Dann steht man ganz oben auf der Kuppe, links oben der orangerote Ball der eben aufgegangenen Sonne, rechts unten das noch schlafende Tal. Einzelne Dächer und Kirchtürme und Turmuhren ragen aus dem Dunst heraus, es schaut aus, als würden sie schweben. Und dann denkt man sich: Es kann gar nichts Schöneres geben, als genau jetzt hier zu sein, auf der Mühlviertler Alm. 

 

Dass es so schön ist, liegt an den Pferden, sagt die elfjährige Tochter. Wie lieb sie sind, ihr glänzendes Fell, ihre weichen Nüstern, ihre Bewegungen, ihre Kraft. Und wie gut man mit ihnen reden kann! Ricardo, ihr Pferd, ist ein Wallach, gemütlich, genießerisch, aber auch ein bisschen eigenwillig. Vor allem bergab geht er gar nicht gern. Da müsse man mit ihm verhandeln, sagt die Tochter, ihn überreden, ihn damit locken, was es nachher alles zu essen gebe. Sie quatscht ihm – fordernd, nachsichtig, zärtlich, erzieherisch – während der Wanderritte manchmal zwei, drei Stunden lang die Ohren voll. 

Dass es so schön ist, liegt an der Landschaft, meinen die Erwachsenen. Nichts ist eckig, alles ist rund in diesem Teil des Mühlviertels – gerade so, als hätte Friedensreich Hundertwasser hier gelernt, wie man gerade Kanten zu anmutigen Kurven krümmt. In sanften Halbkreisen liegen die Felder rund um die Höfe da, die Feldwege schlängeln sich zwischen den Hügeln hindurch, die Topografie ist vielfältig wie sonst nur an wenigen Orten Österreichs: hier eine Blumenwiese, dort ein Feld, dazwischen schattenspendende Baumgruppen, Wäldchen, mächtige Felsbrocken, und immer wieder ein Bach. 

Dass es so schön ist, liegt an Johanna, sagt hingegen der achtjährige Sohn. Johanna, die neunjährige Hoftochter vom Heimelsteiner. Johanna ist ein richtiges Pferdemädchen, drahtig, schmal, verwegen, mutig. Johanna kann auf schmalen Baumstämmen balancieren. Sie kann einen Überschlag auf dem Trampolin. Sie weiß, wie man Marshmallows auf lange Spieße steckt und am Lagerfeuer brät. Sie kann, erzählt der Sohn ehrfürchtig, die wildesten Pferde zähmen. Und als ihr ein spitzer Stein den Fuß blutig geritzt hat, da hat sie einfach die Zähne zusammengebissen – und gar nicht geweint.


Eine Alm namens Pferdereich

Die Mühlviertler Alm nennt sich selbst „Pferdereich“. An ihrem südlichen Rand, wo der Reithof Heimelsteiner liegt, schaut man auf die Donau hinunter, über Amstetten und hinüber bis zum Dachstein. Im Osten geht es steil hinunter ins Waldviertel, am nördlichen Rand ist man schon fast in Böhmen. Die Gegend ist ideal zum Reiten, als wäre sie zu diesem Zweck erschaffen worden. Wir sitzen an einem Rastplatz am Lagerfeuer, die Pferde angebunden bei einem kleinen Weiher, stoisch mampfen sie Gras und Löwenzahn.

Für die Menschen gibt es gegrillten Schweinebauch und Gurkensalat, die berühmte Freistädter Limo und einen Schnaps. Die Stadt- und die Landkinder turnen gemeinsam über Holzpflöcke, suchen Larven im Tümpel, haben einander viel zu erzählen. An der Wand der Blockhütte hängt ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt einen kräftigen gescheckten Ackergaul, über dem Hals das mächtige Kummet, an dem die Pflugscharen befestigt sind. Ein Bild aus dem vorvorigen Jahrhundert, könnte man meinen. Aber so lang ist das gar nicht her. 

Thomas war sechs Jahre alt, als die Familie den ersten Traktor kaufte, 1972 war das, sein erstes Schuljahr, er weiß es noch ganz genau. „Aber dem Traktor hat man nicht ganz getraut, und schwach war er ja auch“, erzählt er. Deswegen habe man auch weiterhin noch oft mit dem Pferd gepflügt. Und weil man, anders als beim Traktor, die Pflugscharen ja nicht einfach hochklappen kann, wenn man mit der Arbeit fertig ist; und weil man auf dem Heimweg keine tiefen Ackerfurchen in den Weg ziehen kann – deswegen habe man den Pflug abends immer auf dem Feld stehen lassen, habe das Geschirr abgehängt und sei dann auf den Pferden heimgeritten.

„Das war für uns Buben immer der schönste Moment des Tages“, sagt Thomas.


Zwei Wochen allein herumreiten

Obwohl niemand damals auf die Idee gekommen wäre, das „Reiten“ zu nennen. „Man ist halt auf dem Pferd gesessen, irgendwie.“ So haben sie das damals alle gemacht, auf den Höfen der Mühlviertler Alm. Waren Haupt- oder Nebenerwerbsbauern, lernten Tischler oder Installateur oder Gastronomie, hatten alle ein paar Pferde im Stall.

Bis in den Achtzigerjahren einer nach dem anderen zaghaft entdeckte, dass man aus dem Reiten eine Existenzgrundlage machen kann. Deswegen gibt es heute das „Pferdereich“, mit 50 Reitställen und Herbergen, Jausenstationen, Rastplätzen – und dazwischen 700 Kilometer Reitwege, vernetzt, markiert und gemeinsam betreut. „Du kannst dir bei mir ein Pferd ausborgen und zwei Wochen lang allein herumreiten, wo du willst, von einem Hof zum anderen“, sagt Thomas.

Das gibt es kaum irgendwo sonst auf der Welt. Und es funktioniert nur, weil man zusammenarbeitet. Weil einer den anderen kennt – und die Pferde des anderen selbstverständlich auch. Eben nähern sich zwei junge Frauen dem Rastplatz, auf einem Braunen die eine, auf einem Scheckigen die andere. Johanna weiß sofort, zu welchem Hof sie gehören. Nein, verloren gehen kann hier niemand – „zu irgendeinem Hof kommst immer“, sagt Thomas. 

Anders als in vielen anderen Regionen öffnen die Bauern den Reitern hier bereitwillig ihre Wege. Wir reiten an Kuhställen, Planschbecken und Wäscheständern vorbei. Ein Mähdrescher nähert sich, groß und rot und furchterregend, die schreckhafteren unter den Pferden spitzen schon ängstlich die Ohren und spannen die Muskeln an. Doch der Mähdrescherfahrer schaltet den Motor ab, winkt, stützt sich geduldig aufs Lenkrad, und fährt erst weiter, als wir außer Sichtweite sind.

Nein, hier drückt kein Autofahrer gedankenlos auf die Hupe, um die Reiter zu überholen. Sogar die Jäger hat man freundschaftlich eingebunden. Alle paar Wochen setzt man sich mit ihnen im Wirtshaus gemütlich zusammen, und wenn einer der Jäger seinen Fünfziger feiert, kriegt er ein selbst gebasteltes, lebensgroßes Holzpferd vor die Tür gestellt.

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Wenn keiner mehr was sagt

Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Wir haben die Ruine Ruttenstein erklommen und im Burggraben unsere Pferde angebunden, wie es wohl einst im Mittelalter die Ritter taten. Auf dem Rückweg sind wir in den Bach gestiegen, Farina, Lisa und Luki haben wild mit ihren Hufen gespritzt, um sich mit dem Wasser den Bauch zu kühlen. Nur Ricardo, der Genießer, wollte sich lieber ganz ins Wasser legen. Die Tochter aber, schon halb im Bach, drückte fest die Waden zusammen und sprach mit Ricardo ein strenges Wort.

Und ihr Freund gehorchte ihr. Als sie abends nun todmüde ins Bett fällt, ist sie stolz darauf, dass sie – klatschnass, aber trotzdem! – im Sattel sitzen geblieben ist. Der Sohn schläft fest wie ein Stein. Ob er von Johanna träumt, wissen die Erwachsenen nicht. Sie trinken ein Bier, schauen dem Bussard zu, der langsam übers Feld kreist, ahnen, dass es morgen einen ordentlichen Muskelkater geben wird. „Am schönsten ist’s immer, wenn keiner mehr was sagt“, sagt Thomas. 

Und Luki und Lisa, Farina und Ricardo? Pferde sind Fluchttiere. Sie schlafen nur wenig. Sie trotten mit wehendem Schweif den Hügel hinauf, suchen sich ein lauschiges Plätzchen auf der Weide und dösen. Bis die Sonne aufgeht und Thomas wieder nach ihnen pfeifen wird.


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