Die Uhr tickt: Der Hochvogel zerfällt
Foto: Adobe Stock / Rüdiger Jahnke
von Daria Neu
Majestätisch, erhaben und zerbrechlich zugleich: Dem Hochvogel, der auch als das Matterhorn des Allgäus bezeichnet wird, droht in den nächsten Jahren ein massiver Felssturz. Experten versuchen das Naturphänomen mit intensiven Messungen zeitlich einzugrenzen. Einheimische sinnieren über das schmerzliche Schicksal ihres Allgäuer Gipfels und eine Hobby-Bergsteigerin hat sich gemeinsam mit ihrer Familie ihren Traum erfüllt.
Berge sind nicht zuletzt deswegen Sehnsuchtsorte, weil sie etwas Ewiges ausstrahlen. Etwas Unumstößliches. In unserem Leben, das immer turbulenter, hektischer und komplexer wird, tut das Gebirge das, was es schon immer getan hat. Nämlich nichts.
Das meint zumindest, wer die gigantischen Felsbrocken betrachtet, die jedem Wetter trotzen, schroff und massiv dastehen wie steinerne Majestäten. Doch in Wirklichkeit ist auch die Bergwelt alles andere als starr. Felsstürze sind Teil der Natur. Sie können einen Gipfel, der seit Jahrmillionen in den Himmel ragt, vom einen auf den anderen Tag grundlegend verändern.
Dieses Schicksal wird auch die wohl markanteste Felspyramide der Allgäuer Alpen, den Hochvogel, ereilen. Mit seinen 2.592 Metern ist er lange nicht der höchste und auch nicht der anspruchsvollste Berg im Allgäu. Dennoch hat er laut Wolfgang Zeller, Naturführer aus Bad Hindelang, der seine Kindheit am Oberjoch verbracht hat, einen einzigartigen Charakter: „Der Hochvogel thront regelrecht über seinen Nachbarbergen.“
Wie lange das noch so bleibt, weiß niemand. Wie eine Wunde durchzieht das Felsplateau seit mehr als 100 Jahren ein langer Riss, der stetig größer wird. Wissenschaftler nehmen in regelmäßigen Abständen Messungen vor und prognostizieren: Bis zu 260.000 Kubikmeter Fels könnten perspektivisch ins Tal stürzen. Das entspricht beispielsweise einem Zehntel der gesamten Cheops-Pyramide. Der Bäumenheimer Weg, eine von mehreren Aufstiegsmöglichkeiten auf den Gipfel, ist bereits seit 2014 wegen Felssturzgefahr gesperrt.
Lokalaugenschein: Erste Annäherung
Im Aufstieg über das Prinz-Luitpold-Haus, die Balkenscharte und den Kalten Winkel droht derzeit noch keine Gefahr. Die Tour bietet alles, was sich ein Bergsteigerherz wünscht: Beeindruckende Tiefblicke, stellenweise Kraxelei an griffigen Felsblöcken und eine Passage über ein Schneefeld. Wir machen uns bereit für einen Lokalaugenschein.
Bis zum Sonnenaufgang gegen 6.30 Uhr ist es noch ruhig und finster rund um die Schutzhütte, die Wanderern seit 1880 neben einem kleinen See auf 1.846 Metern Höhe eine Herberge bietet. Das Bergfieber, ein Gefühlsmix aus Anspannung, Vorfreude und Aufregung, macht sich schon breit, seitdem wir den Hüttenschlafsack eingerollt und die Schnürbänder der Bergschuhe festgezogen haben. Vor der Tür riecht es nach Geröll, die Luft ist noch eisig. Hier und da hört man das Poltern der Steine, die eine Gams losgetreten hat. Ob wir wohl noch eine sehen dürfen?
Wir starten mit Stirnlampen, wollen die ersten Höhenmeter bis zur Balkenscharte auf 2.157 Metern schnell hinter uns bringen und den Sonnenaufgang dort genießen. Und so setzen wir die Füße voreinander, reden nicht viel miteinander und nehmen eine Serpentine nach der nächsten.
Der Himmel über uns erstrahlt bereits in Rotgold. Das Wetter ist heute ein Geschenk – das lässt sich schon erahnen, ohne dass wir noch einen Sonnenstrahl abbekommen hätten. Auf der Balkenscharte angekommen, wird die morgendliche Dunkelheit dann gänzlich vom spektakulären Lichtspiel verdrängt. Und nach ein paar Metern taucht er dann auf. Einfach so, riesig und ohne Vorwarnung: der Hochvogel. Der Hauptgipfel wird rechts und links von zwei Flügeln aus Stein geschmückt und macht so seinem Namen alle Ehre.
Er wirkt gar nicht wie etwas, das nicht von Bestand sein soll. Etwas, das in wenigen Monaten, Jahren, Jahrzehnten einen großen Teil seiner selbst verloren haben soll.
Stück für Stück zum Felssturz
Thomas Figl von der Tiroler Landesgeologie beschäftigt sich mit Gefahren- und Evakuierungsmanagement und fliegt jährlich mit einem Hubschrauber über den Hochvogel. Er beobachtet die Entwicklungen: „Der Berg ist durchzogen von Störungen und Rissen.“ Man dürfe sich den Felssturz allerdings nicht vorstellen wie einen großen Knall. Vielmehr würden größere und kleinere Teile in Phasen abgehen. „Niemand wird in der Früh aufwachen und feststellen, dass am Hochvogel plötzlich 260.000 Kubikmeter Fels fehlen.“
Die Bewegungen hätten sich deutlich beschleunigt, sagt Figl. Gerade auf Wettereinflüsse, die selbstverständlich auch Resultat der klimatischen Veränderungen sind, reagiere das Bergmassiv sehr sensibel. Trotzdem sei es im Moment noch unseriös, einen genauen Zeitpunkt zu nennen, an dem es zum finalen Bruch kommt. „Das sind Prozesse, die wir nur beobachten und nicht beeinflussen können“, sagt Figl.
Mit hochempfindlichen Geräten wie GPS-Sensoren, Drohnen oder Laserscannern messen der Geologe Prof. Dr. Michael Krautblatter und sein Team die Veränderungen am Hochvogel genauestens. Derzeit ist der Riss am Gipfelplateau etwa 30 Meter lang. Während ihn Bergsteiger vor einiger Zeit noch problemlos mit einem kleinen Sprung überwinden konnten, klafft er jetzt mehrere Meter auseinander. Eklatant werde er wachsen, kurz bevor es dann zum Kollaps kommt. Wo die Fachleute jetzt von Zentimetern im Jahr sprechen, werden es am Ende Zentimeter pro Minute sein.
Lokalaugenschein: Am Gipfel
Während wir das steile Schneefeld, den Kalten Winkel, in Angriff nehmen, wächst pro Minute nur die Vorfreude. Unsere Vorgänger haben kleine Stufen in die Eismassen getreten.
Vorm Gipfelaufbau beginnt dann die genussvolle, leichte Kletterei. Felsstufen türmen sich aufeinander, rote Punkte weisen den Weg. Er ist ganz anders beschaffen, als man es von den vielen grasbewachsenen Bergen der Allgäuer Alpen gewohnt ist. Wir kraxeln einmal um den rechten Flügel aus Stein herum, bevor es Stufe für Stufe, Steinschicht für Steinschicht weiter auf den Gipfel geht.
Oben angekommen, eröffnen sich gleich zwei berührende Tiefblicke. Einmal hinaus in die Weiten der Allgäuer, Lechtaler und Tannheimer Berge. Und einmal hinab in den tiefen Riss, der die Zukunft des Berges wie eine tickende Zeitbombe begrenzt. Er ist überdeutlich zu sehen, nicht mehr wegzudiskutieren, nicht mehr aufzuhalten. Neben dem formschönen und nagelneuen Gipfelkreuz sind Warnschilder aufgestellt: „Achtung! Gefahrenbereich – Abstand halten!“
Wehmut unter Einheimischen
Naturführer Wolfgang Zeller empfindet eine gewisse Wehmut, wenn er an einen seiner Lieblingsberge in der Heimat denkt: „Der Hochvogel hat einfach Charakter.“ Dieser werde sich nach dem Felssturz zwangsläufig sehr verändern. Die schöne Pyramide erzeuge gerade bei vielen Allgäuern ein Gefühl von Verbundenheit, Sicherheit, Ruhe und Bestand. „Ein Berg hat etwas Verlässliches an sich. Wenn diese Verlässlichkeit schwindet, kann das schon wehtun“, sagt Zeller.
Der 53-Jährige betrachtet alle Berge als Gesamtorganismus. Seit vielen Jahrzehnten bietet Zeller Wandertouren an, bei denen der Einklang mit der Natur die übergeordnete Rolle spielt. Er will weg vom Erobern, weg vom Bezwingen. „Vielmehr geht es mir darum, Kontakt herzustellen, das Gebirge zu verstehen.“ Wetter, Klima, Beschaffenheit, Wasserhaushalt, Pflanzenwelt – all diese Dinge würden den Charakter eines Berges formen. Und dieser sei eben alles andere als stetig. „Der Felssturz ist die Bestimmung des Hochvogels, er ist Teil seines Charakters“, sagt der Naturcoach.
„Wir können ihn nicht aufhalten“, fährt er fort, der Felssturz werde kommen. Mit dieser Dynamik müssen sich die Einheimischen genauso anfreunden wie die Wissenschaftler und Touristen. „Und wer weiß“, sagt Zeller, macht eine Pause und fügt nach ein paar Sekunden an: „Vielleicht ist er danach ja sogar noch schöner als jetzt.“ Denn Berge tun das, was sie schon immer getan haben. Sie sind einfach da. Vielleicht verändern sie sich. Aber eine Wahrheit bleibt für immer: Sie folgen keiner menschlichen Logik.
Lokalaugenschein: Die Vogelperspektive
Es stürmt auf dem Hochvogel, die Hände sind eisig kalt und doch können wir uns lange nicht lösen von diesem Anblick, diesem Erlebnis, diesem Traum, den wir als Familie schon lange hatten – wenngleich wir schon höher und schwieriger gestiegen sind. Vielleicht aber war es genau dieser Charakter, der uns die ganze Zeit gefesselt hat. Diese Beständigkeit und Vertrautheit, die er trotz seines drohenden Schicksals ausstrahlt. Von fast jedem Allgäuer Gipfel aus sind seine schroffen Flügel zu sehen. Heute durften wir selbst mitfliegen – und die umliegenden Berge sozusagen aus der Vogelperspektive betrachten.
Details zum Berg
Der Hochvogel (2.592 m) befindet sich auf der Grenze zwischen Deutschland und Österreich und im Naturschutzgebiet der Allgäuer Hochalpen. Die Erstbesteigung – zumindest die erste dokumentierte – gelang im Jahre 1832 durch den Bergsteiger Trobitius. Die touristische Erstbesteigung jedoch glückte dem bekannten Allgäuer Hermann von Barth, der den Gipfel des Hochvogels 1869 erreichte. Das Gestein des Berges besteht aus Hauptdolomit. Wenn es zum Felssturz kommt, gehen Experten davon aus, dass sich eine riesige Staubwolke über dem Hornbachtal auf der Südseite des Berges entwickeln wird. Zu großem Schaden von menschlichen Siedlungen soll es Untersuchungen zufolge eher nicht kommen.
Die Tour
Es gibt vier verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten auf den Hochvogel: über den Kalten Winkel, über die Kreuzspitze, über den Fuchsensattel oder über den Bäumenheimer Weg. Letzterer ist wegen der Felssturzgefahr bereits gesperrt.
Unsere Tour führte vom Giebelhaus (Hinterstein), das zu Fuß, mit dem Rad oder per Bus erreicht werden kann, durch das Bärgündeletal auf das Prinz-Luitpold-Haus (1.846 m). Der Aufstieg dauert etwa drei Stunden. Nach einer Übernachtung dort geht es durch die geröllige Landschaft hinauf zur Balkenscharte (2.157 m) und weiter zum Schneefeld am Kalten Winkel. Von dort aus führt die Tour an einem Felsturm vorbei Richtung Gipfelpyramide. Der Abstieg erfolgt zunächst auf gleichem Weg und kann – wie in unserem Fall – über einen Klettersteig an der Kreuzspitze (2.369 Meter) abgewandelt werden. Durch Schotterfelder geht es wieder in Richtung Prinz-Luitpold-Haus und anschließend ins Tal. Mehr als 1.600 Meter Auf- und Abstieg müssen Bergsteiger bewältigen. Insgesamt erfordert die Tour rund zehn Stunden Gehzeit, die durch die Übernachtung entzerrt werden.
Auf den Hochvogel vom Prinz-Luitpold-Haus
Zur Autorin
Die Journalistin und Hobby-Bergsteigerin Daria Neu ist 27 Jahre alt, kommt aus Kassel (Hessen) und verbringt jeden Urlaubstag mit ihrer Familie in den Alpen. Den Hochvogel hat sie im August 2020 gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder bestiegen. Am liebsten sind die Vier mehrmals im Jahr im Allgäu unterwegs.
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