Winterwandern im Gsieser Tal
Foto: Paul Kranzler
Schneeschuhe an den Beinen, die Wintersonne im Gesicht, weiße Pracht, so weit das Auge reicht: Willkommen im
Gsieser Tal, wo der Winter noch ganz ohne Zirkus auskommt.
Markus Honsig für das Bergwelten-Magazin Winter 2015/16
Auf dem Weg durch das Pustertal kommt man am Kronplatz nicht vorbei. Der Berg ist mit 2.275 Metern kein besonders hoher Berg, aber wahrscheinlich einer der am besten erschlossenen der Alpen. 32 Lifte, 116 Pistenkilometer – viel mehr Skizirkus mag man sich für einen einzigen Berg nicht mehr vorstellen.
Menschen, die es lieber ruhiger anlegen, sollten besser rechtzeitig abzweigen, direkt beim Kronplatz nach Welsberg und weiter in das Gsieser Tal hinein. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Das Gsies ist eine Art gallisches Dorf im großen Wintergeschäft, das sich der Eroberung durch den Massentourismus seit Jahrzehnten erfolgreich widersetzt.
Im ganzen Tal gibt es genau zwei Lifte, den Kinderlift in Pichl und den Berglift in St. Magdalena, und auch die sind nicht zur kleinen Gsieser Skischaukel verbunden. Viel mehr als drei, vier Pistenkilometer kommen unterm Strich aber ohnehin nicht zusammen.
„Es gab und gibt natürlich auch bei uns immer wieder Leute mit großen Ideen“, erzählt Paul Sapelza, Berg- und Skiführer aus Welsberg, „aber wir haben uns für einen sanften Tourismus entschieden.“ Weitsicht und Eigensinn kennzeichnen die Gsieser, was sich vielleicht auch dadurch erklären lässt, dass die Besiedelung im frühen Mittelalter vom benachbarten Villgratental in Osttirol aus erfolgte.
Da scheinen ähnliche Gene zu wirken: Die Villgrater können nicht wenig stur sein, was die touristische Erschließung ihres Tals betrifft. Die haben vor wenigen Jahren noch mit „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts“ um Besucher geworben. Viel mehr hat das 20 Kilometer lange Gsieser Tal auch nicht zu bieten: Natur eben, Ruhe, Berge.
Berge wie den Durakopf, den wir gerade besteigen, an den Beinen Schneeschuhe, im Gesicht die Wintersonne, wolkenloser Himmel über uns, frischer Pulver vor uns. Fast scheut man sich, weiterzugehen, um die makellose Fläche nicht zu zerstören. So geht Wintermärchen.
Kleiner Anstieg, großer Ausblick
„Ein wirklich unangenehmer Job, aber einer muss ihn ja machen“, lacht Paul, der uns die schönsten Touren im Tal zeigt und mit einem Skistock hinüber zum Durakopf deutet, eine halbe Stunde aufwärts von uns entfernt. „Eine Paradetour hier im Tal, kleiner Anstieg, großer Ausblick, ideal für eine Schneeschuhwanderung.
So viel Panorama für so wenig Anstrengung bekommt man nur selten.“ Paul hat nicht zu viel versprochen. Und damit auch der Rückweg nicht fad wird, haben wir das Böckl mit auf den Gipfel genommen. Das Böckl ist die einfachste Variante eines Skibobs. Es besteht aus einem abgeschnittenen Ski, einem darauf montierten Holzgestell zum Draufsitzen und zwei Griffen zum Lenken.
Der Vorteil der simplen Konstruktion: Sie hängt sich mit einem Gewicht von rund zwei Kilogramm beim Hinaufgehen nicht groß an und ist beim Hinunterfahren selbst im Tiefschnee gut zu fahren. Geringster Materialeinsatz, höchster Spaßfaktor, der mit der Zeit allein durch untrainierte Bauchmuskeln gebremst werden könnte. Tolle Erfindung.
Wobei der historische Ursprung des Böckls nicht geklärt ist, selbst die Schreibweise bleibt unklar. (Böckl oder Pöckl? Der oder das Böckl? Hier gilt: das Böckl.) Seine Wiederentdeckung vor 25 Jahren haben wir aber den Gsiesern zu verdanken, wird Paul, einer der größten lebenden Böckl-Fans, nicht müde zu betonen.
Unstrittig hingegen ist die Herkunft der Gsieser Ochsen. Sie müssen im Tal geboren sein und mindestens zwei Sommer auf den Almen des Tals verbracht haben. Sie dürfen nur von ausgewählten Bauern gezüchtet und nur auf der Versteigerung in St. Lorenzen zwei Wochen vor Ostern verkauft werden, dabei nicht weniger als 650 Kilogramm wiegen.
Und das sind nur ein paar der strengen Regularien. Ein Gsieser Ochs ist also ein ziemlich wertvolles und auch rares Vieh.
Aber – glücklicherweise – „ein bissl Ochs gibt’s das ganze Jahr“, sagt Barbara Mayr, Chefin des Durnwalds, des besten Restaurants im Tal, und serviert ein Carpaccio vom Gsieser Ochsen, das man ob seiner Zartheit und seines Aromas so schnell nicht vergessen wird.
Gefolgt von einem nicht weniger erinnerungswürdigen Hirschragout. „Den Hirsch hat der Lois geschossen, der war gerade vorher da.“ Die Wirtsleute wissen, was sie auf den Teller bringen, und das schmeckt man auch. Und sie wissen, was man dazu trinkt, zum Beispiel einen Südtiroler Lagrein 2010 der Abtei Muri.
Die Weinkarte des Durnwalds ist insgesamt sehr schön sortiert, mit echten Raritäten aus Italien und Frankreich.
Heimweh ins Tal
Mutter Barbara und Tochter Silvia führen das Haus allein, nicht immer eine einfache Aufgabe. Silvia, 29 Jahre alt, hat bei ihrem Vater, der vor zwei Jahren verstorbenen ist, kochen gelernt, war dann vier Jahre in anderen Küchen unterwegs, wollte aber immer so schnell wie möglich wieder nach Hause.
„Das Haus, das Tal, das möchte ich nicht vermissen“, sagt sie. „Ich will die Tradition, die die Großmutter mit dem Wirtshaus begonnen hat, fortführen.“ Wenn die Jungen gern zurückkommen, kann das kein schlechtes Zeichen für das Leben im Tal sein. Draußen in Welsberg sagen die Leute, bevor die Welt untergeht, übersiedeln sie ins Gsies, weil hier alles zehn Jahre später ankommt.
Der Bau eines zweiten Handy-Sendemastes etwa wurde bei einer Befragung abgelehnt. Einer ist genug, fanden die Talbewohner. Die Talbewohner: So einfach ist das gar nicht, erklärt uns Wanderführer Peter Seiwald, langjähriger Gemeindesekretär von St. Martin. Es gibt eine Gemeinde, das Gsieser Tal. Es gibt drei Orte, Pichl, St. Martin und St. Magdalena.
Und sieben Gebietsverwaltungen. Wobei: Pichl gehört noch gar nicht richtig zum Gsies, „das ist eine eigene Welt“. Die gesellschaftlichen Kraftlinien würden jedenfalls ziemlich verschlungen durch das Tal laufen, quer über die Ortsgrenzen und den Gsieser Bach hinweg, sagt Seiwald und lächelt wissend.
Für den Besucher ist das aber nicht so wichtig, solange die Gsieser dieser grundsätzlich gastfreundliche, offene Menschenschlag sind. „Die Sextener können vergleichsweise schon gröber und störrischer sein“, fügt Paul noch hinzu. Heimweh ins Tal, das kennt auch die 27-jährige Sarah Steinmair.
Zwei Wochen Urlaub reichen, „um gern wieder zurückzukommen“, sagt sie. Sarah bewirtschaftet seit mehr als zwei Jahren die Uwald-Hütte auf 2.042 Meter Höhe, gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Mathilde Ausserhofer (und nein, das ist kein Problem, weder im Tal noch am Berg, „nie gewesen“).
Es hat geschneit in der Nacht. „Winter ist Winter“, sagt Mathilde, während sie den Schnee von den Bänken und Tischen vor der Hütte staubt. „Irgendein Problem gibt es immer.“ Einmal funktioniert der Motorschlitten nicht, dann wieder muss die Schneefräse repariert werden. „Es ist schon eine Herausforderung, ein kräfteraubender Job.“
Glück am Berg
Der Lohn der Mühe: „dass die Gäste glücklich sind“, sagt Sarah. „Heroben ist es besser. Heroben sind die Leute anders, zufriedener. Im Tal ist das nicht immer so.“ Man muss die Leute aber auch verstehen: Unten gibt es nicht diesen prächtigen Blick – die Uwald-Alm bietet wohl die schönste Aussicht über das ganze Tal.
Und unten gibt es ebenfalls nicht diese liebevoll geführte Hütte, in der hausgemachte Schlutzkrapfen, selbst gebackenes Schwarzbrot und selbst gebrannte Schnäpse serviert werden. Keine Überraschung also, dass die Uwald-Alm bereits im ersten Jahr unter der Leitung von Konditorin Sarah und Köchin Mathilde zu den drei schönsten Almhütten Südtirols gewählt wurde.
Vor der Hütte stehen die Rodeln bereit: Fast fünf Kilometer Abfahrt warten. Die Chancen, das Glück von oben mit hinunterzunehmen, sind also gar nicht so schlecht.
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