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Foto: Matthias Fend
Bergportrait

Salzburger Hochgefühle am Großvenediger

• 22. November 2021
7 Min. Lesezeit

Man kann zwar nicht bis nach Venedig sehen, dort oben aber die große Liebe treffen: unterwegs zum Großvenediger in den Hohen Tauern – mit Schneeschuhen, Rodel und Tourenskiern.

Klaus Haselböck für das Bergwelten-Magazin Februar/März 2017

Der Großvenediger zeigt sich nicht gleich. So ist das halt mit den Chefs“, sagt Emil Widmann zu später Stunde. Es ist ruhig geworden in der Kürsingerhütte, hier, im äußersten Südwesten Salzburgs auf 2.500 Meter Höhe.

Draußen ist tiefer Winter, und über den Gipfeln der Hohen Tauern, die das Haus als stumme Riesen umlagern, wölbt sich ein mächtiger Sternenhimmel. Im Pinzgau, einem der fünf Bezirke Salzburgs, ist die Kürsingerhütte die entlegenste Adresse, ein letzter Außenposten inmitten hochalpiner Einsamkeit.

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Mit Tourenskiern sind wir hierher aufgestiegen und haben es für heute geschafft. Das Ziel ist ein anderes: Im fahlen Licht schimmern noch die Flanken des Großvenedigers herüber – dort wollen wir morgen hin.

Mit dem fünfthöchsten Berg Österreichs lebt Emil – wie er selber sagt – schon in „alter Ehe“: Der Bergführer war langjährig Pächter der Kürsingerhütte und kennt die Wege, die zu allen Jahreszeiten auf den 3.657 Meter hohen Gipfel führen, und die vielen Gesichter des Berges wie kein Zweiter.

Vor allem fasziniert ihn dessen Form: „Der Venediger ist wie eine weiße Pyramide“, sagt Emil und zieht mit den Händen die Konturen des Berges in der Luft nach. „Gemeinsam mit dem Großglockner beherrscht er die Hohen Tauern.“

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Sanfter Wildkogel

Knapp 2.000 Höhenmeter tiefer, in der Pinzgauer Gemeinde Neukirchen, sieht und spürt man den „Chef“ erstaunlich wenig. Vom Zentrum aus kann man ihn überhaupt nur erahnen, am Ortsende zeigt er sich ganz kurz – im Tal ist der prominente Gipfel der große Unsichtbare, der anderen den Vortritt lässt.

So hat in Neukirchen der Wildkogel das Sagen. Der nördlich gelegene Zweitausender, ein Ausläufer der Kitzbüheler Alpen, lockt als Kontrastprogramm zum Großvenediger mit ganz anderen Erlebnissen: Als sanften Grasberg lieben ihn im Sommer Wanderer und Mountainbiker, im Winter tummeln sich hier Skifahrer, Schneeschuhwanderer und Rodler.

Für jeden etwas dabei

Bequem geht es mit den Liften der Wildkogel-Arena hinauf und genussvoll wieder hinunter: Die moderat steilen 62 Pistenkilometer schätzen Familien und alle, die mit Skiern gerne gemütlich cruisen. Abwärts kann es vom  Wildkogel auch auf zwei flotten Kufen gehen:

Die Bergstation der Smaragdbahn ist der Ausgangspunkt der längsten beleuchteten Rodelstrecke der Welt – über 14 Kilometer führt sie bis in die Gemeinde Bramberg. Es empfiehlt sich trotzdem, tagsüber hinunterzukurven: Blickt man jetzt nämlich nach Süden, so ist man mit Dreitausendern wie dem Großglockner, der Schlieferspitze und der Dreiherrenspitze, die über den langgezogenen Tauerntälern thronen, ganz leichtfüßig auf Augenhöhe.

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Auch der Großvenediger schraubt sich aus dieser Perspektive dermaßen in den Himmel, dass man glaubt, an klaren Tagen von dessen Gipfel bis ins 200 Kilometer entfernte Venedig blicken zu können – ganz wie es sein Name verspricht. Leider funktioniert das nicht: Die Dolomiten versperren die Sicht zum Mittelmeer.

Sagenhafte "Venedigermandln"

Der Name des Berges erklärt sich eher von den „Venedigermandln“: So wurden im Volksmund die Südländer genannt, die im Spätmittelalter in die Hohen Tauern kamen. Sie brachten Handelsware und schürften – zur mäßigen Freude der Einheimischen – nach kostbaren Erzen und Kristallen:

„Die Venediger sahen anders aus, sprachen eine unverständliche Sprache, und man schrieb ihnen magische Fähigkeiten zu“, so der Bramberger Lehrer Erwin Burgsteiner. Als begeisterter „Strahler“, wie Steinesammler auch genannt werden, beherbergt er im Keller seines Hauses eine umfangreiche Mineralienschau.

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Die Motivation der mysteriösen Gäste, die im Pinzgauer Sagenschatz ihren fixen Platz haben, versteht er nur zu gut: „Das Finden ist immer ein besonderes Gefühl.“

Schneeschuhwandern im Untersulzbachtal
Foto: Matthias Fend
Auf in den Nationalpark: Gemeinsam mit dem Guide erkundet die Gruppe das stille Untersulzbachtal.

Spurensuche im Nationalpark

Marlene strahlt heute aus einem ganz anderen Grund: Sie hat ihre erste Schneeschuhtour vor sich. Und das gleich im Nationalpark Hohe Tauern. Herbert Hofer, einer der 15 Salzburger Nationalpark-Ranger, hilft ihr beim Anlegen des ungewohnten Schuhwerks: „Im Winter dauert alles länger“, weiß der erfahrene Guide, der mit Gästen das ganze Jahr in den Hohen Tauern unterwegs ist.

Drei Jahre dauert die Ausbildung zum Ranger, und Herbert hat seinen früheren Beruf als Tischler gegen die beste Luft, die in Salzburg zu bekommen ist, getauscht. Marlene ist gemeinsam mit ihrem Vater sowie ihren Freundinnen Janin und Katja unterwegs.

Der Weg führt die kleine Gruppe ins Untersulzbachtal, wo Füchse, Dachse, Hirsche, Gämsen und Steinböcke ihre Ruhezonen haben. Dass sie sich zeigen, ist aber unwahrscheinlich: „Wir stinken fürchterlich für die Tiere“, dämpft Herbert die Erwartungen der Runde.

Sehr wohl verraten die vierbeinigen Überwinterer ihre Präsenz durch die Losung, die Fraßspuren und die Trittsiegel. Die Lüfte gehören dem Steinadler und dem Bartgeier. Beide können ihre Flügel beruhigt ausbreiten: 1.856 Quadratkilometer, eine Fläche doppelt so groß wie Berlin, machen den Nationalpark Hohe Tauern zum größten Schutzgebiet der Alpen.

Die Sonne steht jetzt noch zu tief, um das enge Tauerntal mit Wärme fluten zu können, und der Frost zwickt die fünf Schneewanderer schon in die Backen. Zum Glück ist der Untersulzbachfall nah und sorgt für einen spektakulären Abschluss der Tour: Fünfzig Meter stürzen die Wasser in die Tiefe, um dann in einer Klammstrecke zu verschwinden.

Will man hingegen in die Höhe, so lässt man sich von Guides wie Maria Kirchner begleiten. Die Brambergerin ist eine der wenigen Frauen in einer Männerdomäne. 2013 hat sie sich mit dem Abschluss der Bergführerausbildung einen Traum erfüllt: „Das war die beste Entscheidung meines Lebens.“

Seitdem ist sie im Sommer zum Führen in der Schweiz, in Italien oder Frankreich unterwegs, im Winter müssen es aber ihre Pinzgauer Berge sein.

Die Bergführer des Untersulzbachtals

Verbindendes Seil

Am Großvenediger stand Maria das erste Mal mit 15 Jahren: Marias Onkel Herbert verknotete sie damals mit Bernhard, aus demselben Ort stammend und ebenfalls ein Novize auf diesem Berg. Das verbindende Seil bedeutete den beiden an jenem Tag wenig.

Einige Jahre später sollten sie sich beim Klettern treffen, und plötzlich funkte es: Heute ist auch Berni Egger Bergführer, und die beiden sind ein Paar. Ein Dutzend Mal gehen sie im Winter mit Gästen auf den Venediger. Mit uns nehmen sie die traditionelle Route von Neukirchen durch das Obersulzbachtal.

Kürzer wäre zwar der Anstieg über Osttirol, aber dann kann sich der Berg nicht von der Schokoladenseite zeigen – mit seiner anmutigen Gipfelpyramide. Und genau diesen Blick wollen wir erleben. Außerdem verkürzt uns das Taxi, da die Straße im Obersulzbachtal bereits geräumt ist, den langen Weg zur Postalm.

Die Ökopioniere von der Postalm

Seit 1983 bewirtschaften Ernst und Trudi Pichler die 1.691 Meter hoch gelegene Hütte. Ernst, der hier aufgewachsen ist, blickt gar auf 56 Postalm-Jahre zurück. „Almjahre zählen doppelt“, meint er ganz ohne Romantik. Das Leben am Berg hat vor allem mit harter Arbeit und steter Sorge um Grund und Boden zu tun.

„Wir sind ortsgebunden“, so Ernst, dessen Urgroßvater die Postalm 1911 erworben hat. Deshalb möchten die beiden in Sachen Energie möglichst autark sein: Die Wärme für die Hütte kommt von einer thermischen Solaranlage, den Strom beziehen sie aus dem Kleinkraftwerk am nahen Wasserfall, und selbst der Geländewagen, ein Steyr-Puch-„Pinzgauer“, fährt mit Biogas.

Die Kürsingerhütte bei Nacht
Foto: Matthias Fend
Der letzte Außenposten: Die Kürsingerhütte ist der traditionelle Stützpunkt für eine Besteigung des Großvenedigers von der Salzburger Seite aus.

Vor zehn Jahren haben sie die Ideen umgesetzt: „Damals waren wir Pioniere, heute nutzen viele Hoteliers unser Konzept“, sinniert Ernst, während uns seine Trudi eine herzhafte Jause mit Pinzgauer Speckbroten serviert. Auch die ist nachhaltig – nachhaltig köstlich.

Visionäre waren auch die Erstbesteiger, die vor gut 175 Jahren um den Großvenediger ritterten. Ignaz von  Kürsinger, Gerichtsvollzieher aus Mittersill, stellte damals eine 40-köpfige Mannschaft auf, die Wege durch die geheimnisvolle Gletscherwelt der Hohen Tauern finden sollte.

Vertikale Arktis

„Türkische Zeltstadt“ nannte Kürsinger den wild zerrissenen Eisbruch unterhalb des Obersulzbachkees. Davon ist heute nur noch ein Gletschersee übrig – allerdings 42 Meter tief. Sehr bedachtsam überquert unsere kleine Karawane deshalb dessen Eisdecke.

Das milchige Licht verdichtet die Konturen der Hohen Tauern zu einem großen Weiß und gibt uns das Gefühl, in einer vertikalen Arktis unterwegs zu sein. Die Pioniere schützten ihre Gesichter mit in Öl getränktem Schießpulver und nahmen regelmäßig Urinmessungen vor, um den erhöhten Flüssigkeitsbedarf in der Höhe zu erforschen.

In der illustren Runde von 1841, der neben dem Bezirksarzt Franz Spittaler auch der Jäger Paul Rohregger als bester Gebietskenner angehörte, schien Alkohol reichlich geflossen zu sein. Nur eine Flasche des „guten Österreich-Weins“ hat es laut Kürsingers Aufzeichnungen bis auf den Gipfel der „weltalten Majestät“ geschafft.

Über den Wolken
Foto: Matthias Fend
Von Gipfel zu Gipfel: Auf Salzburgs höchstem ist auch der Großglockner zum Greifen nahe.

Und fast die Hälfte der Expeditionsteilnehmer gab am Weg dorthin auf. Weit ist es nach wie vor auf den Großvenediger: Noch vor Sonnenaufgang ziehen wir von der Kürsingerhütte los, umrunden den Berg in einem weiten Bogen Richtung Südosten, ehe wir uns in Schleifen über die flachen Gletscherterrassen zur  Venedigerscharte hinaufarbeiten.

Die Spalten, die große Gefahr dieser Hochtour, sind im Winter meist geschlossen; angeseilt gehen wir trotzdem. Nach der Scharte, wo die Luft nun schon merklich dünner ist, trennt uns bald nur noch ein schmaler Schneegrat vom höchsten Punkt. Der ist allerdings das Filetstück der Tour – und Berni, unser „Paul Rohregger“, mahnt zur Konzentration:

„Jetzt möchtets ihr mir etwas aufpassen.“ Für die Eroberung der „eisigen Christenburg“ ließ Kürsinger ein Banner und eine Signaltrompete hinauftragen. Stattdessen haben wir heute Ski dabei. Und angesichts der endlosen Pulverschneeabfahrt, die uns jetzt erwartet, würden wir sie gegen nichts in der Welt tauschen.

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