Mountainbiken im Engadin
Foto: Carlos Blanchard
Ob Flow-Trails auf der Corviglia oder eine Überquerung des Berninapasses — hier gibt die Vielseitigkeit den Takt an.
Uta de Monte für das Bergweltenmagazin Oktober/November 2018 aus der Schweiz
Mit einer dicken weißen Schürze steht Stefan Schmucki am Kupferkessel und rührt rund 240 Liter Rohmilch über dem offenen Feuer. Schon seit einer guten Stunde tut er das. Erst wenn die Milch exakt 30 Grad erreicht hat, gibt er einen Löffel Kulturen dazu, nach einer weiteren halben Stunde das Lab. Wir sind nicht annähernd so geduldig wie der lächelnde Senn mittleren Alters mit den kräftigen Unterarmen.
Beherzt greifen wir der Produktion in der Schaukäserei Morteratsch vor und bestellen eine fertige Käseplatte: zahlreiche selbst gemachte Sorten auf einem großen Holzbrett, mit Beeren und Trauben liebevoll dekoriert. Danach hausgemachter Rüeblikuchen und Holundersaft im 1-Liter-Krug. Genau das Richtige für knurrende Biker-Bäuche und leergepumpte Oberschenkel um die Mittagszeit. Die Käserei mit rustikalen Holzbänken unter lichtem Lärchenwald ist ein romantisches Kleinod auf der Route „Bernina Express“ und liegt etwa fünf Kilometer von Pontresina nahe der Bahnhaltestelle Morteratsch im Oberengadin.
Das gesamte Engadin ist besonders im Herbst ein inspirierender Spielplatz für Sattelfeste: Auf über 400 Kilometern ausgewiesener Radrouten aller Schwierigkeitsgrade durchquert man die Bergwelt bis auf spektakuläre Höhen. Vor der Kulisse zahlreicher Drei- und Viertausender bietet die Region wegen ihrer flachen Seenlandschaft am Talboden auf Panoramawegen und mit technisch anspruchsvollen Singletrails alles, was ein Biker-Herz höherschlagen lässt.
Vier Bergbahnen, Busse sowie die Rhätische Bahn sind auf den Transport von Fahrrädern eingestellt. Sie ermöglichen grenzenlose Freiheit bis nach Italien auf der einen Seite und bis auf den Aussichtsberg Piz Nair (3.056 Meter) auf der anderen.
Am Fuße des Piz Bernina
Unser Tagestrip Richtung Berninapass, der mit der Nummer 673 bestens ausgeschildert ist, vereint genau diese zahlreichen Facetten zu einem famosen und äußerst abwechslungsreichen Velo-Erlebnis. Der technisch mittelschwierige und konditionell anspruchsvolle Trail von Samedan bis Poschiavo ist eine Tour an bester Sonnenlage, durch imposantes Granitmassiv und mit zauberhaftem Gletscherblick.
Sehr steinig, aber auch sehr übersichtlich führt er am Fuße von Piz Palü und Piz Bernina durch das offene Hochtal Richtung Val Poschiavo und Italien. Bei engen Passagen teilt sich der Trail nach Fahrtrichtung, sodass jeder Biker ungehindert fahren kann. Wem auf der anderen Seite des Berninapasses nach 40 Kilometern in Poschiavo die Puste ausgeht, der lässt sich auf der Unesco-Zugstrecke zurückbringen.
Eine andere, sehr lohnenswerte Variante ist es, mit der Rhätischen Bahn bis zur Passhöhe an der Haltestelle Ospizio Bernina zu fahren und von hier Richtung Celerina und Samedan hinabzugleiten. Vorbei an den Gondelstationen von Lagalb und Diavolezza, wartet der Trail im unteren Teil mit einem elegant angelegten Singletrail auf, der zu den schönsten der Region gehört: Zwischen Baumwurzeln und Gesteinsbrocken geht es durch dichten Lärchenwald im perfekten Neigungswinkel und in engen Kurven nach unten.
Eine Abfahrt, die zu Hochgefühl führt. Und eine Abfahrt, die richtig Appetit macht. Stefan greift zum Schneidegerät und teilt die Masse im Kupferkessel in kleine Flocken. Der Hüttenkäse wäre fertig. Heute steht jedoch Mutschli auf dem Programm: ein kleiner Laib Halbhartkäse, der typisch ist für die Bündner Käseproduktion. Das heißt, die Masse muss jetzt noch auf 42 Grad erhitzt werden. Denn je höher die Temperatur, desto mehr Flüssigkeit geht verloren und desto trockner wird später der Käse.
Nach insgesamt vier Stunden ist die Molke längst abgeschöpft und der Käse in Formen gepresst. Für die kommenden Tage liegt der Mutschli in Salzlake und wird dann mehrere Wochen im Käsekeller reifen.
Ohne rasenden Puls Empor
Derweilen sitzen wir längst wieder im Sattel und strampeln weiteren Ideen entgegen. Die Erkundung des Engadins auf zwei Rädern nehme ich nämlich auch zum Anlass, meine persönliche E-Mountainbike-Premiere zu feiern. Ich tippe also auf die Pedale, ganz sanft nur, und galoppiere aus dem Stand und butterweich den Hang hinauf. Wie ein Vollblüter rauscht mein E-Bike den Forstweg von Celerina hinauf zum Stazersee. Ich straffe die Zügel – ein Fingerzug auf den Hebel der Scheibenbremse genügt, und ich komme unvermittelt zum Stehen.
Der Staub wirbelt um mein Hinterrad. Komisch, nach diesem Anstieg keinen hämmernden Pulsschlag zu spüren. Früher war das ja so: Wer den Singletrail hinuntersausen will, soll ihn bitte schön vorher auch hinauffahren. Heute muss man das nicht mehr. Entweder greift man zum E-Bike oder nutzt die Bergbahnen. Für das letzte Bike-Abenteuer tausche ich den leistungsstarken, wenn auch eher schweren und ungelenken Vollblüter also wieder gegen mein wendiges Fully – und trage es zur Bergbahn, die direkt in St. Moritz auf uns wartet.
Auf dem Flow-Trail von der Corviglia (2486 Meter) ins Engadiner Hochtal hinunter stehen schneller Fahrspaß und eleganter Kurvenrausch definitiv im Mittelpunkt.
Das Paradies ganz für sich allein
In den Herbsttagen von Anfang September bis Mitte Oktober verirren sich nur wenige hierher – und das, obwohl gleich drei perfekt präparierte Flow-Trails den Hang zieren. Den Ritt über die kurvigen Bahnen im Alleingang zu genießen wird also zum Herbst-Special de luxe. In dieser Zeit ist zwar damit zu rechnen, dass das Engadin mit erstem Schnee bepudert ist, der die Trails in eine matschige Rutschpartie verwandeln kann.
Südseitig gelegene Touren, etwa an der Corviglia, sind aber mit großer Wahrscheinlichkeit bis Ende Oktober und bis auf 2.000 Meter schneefrei. Es lohnt sich in jedem Fall, auf sonnige Tage zu warten und die Touren nach dem Wetterbericht zu planen. Dann sollte man selbst hier am Berg noch kurze Hosen im Rucksack haben und erfährt das Privileg leerer Bergbahnen und Touren.
Wir wählen den „WM Flow Trail“: eine spektakuläre und technisch mittelschwierige Abfahrt mit Bilderbuchaussicht auf St. Moritz und die Seenplatte des Engadins. Der griffige Trail, der zum großen Teil über die Olympiapiste von 1948 führt, fügt sich harmonisch in den Berghang ein. Griffiger Boden und ausgeprägte Kurven bieten pures Flow-Vergnügen. Innerlich pfeife ich wie ein Murmeltier vor Begeisterung, als mein Bike mich mühelos durch die 360-Grad-Kurve in der Mitte der Strecke trägt.
Nach 480 Höhenmetern und insgesamt 45 Minuten bis ins Tal ist es wieder einmal Zeit für ein herzhaftes Zvieri: gereiften Mutschli aus der Alpkäserei und eine riesige Portion Glücksgefühle dazu.
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