Patagonien: Auf zwei Rädern durch den Süden Lateinamerikas
Foto: Stephan Zenz
Patagonien im Süden Lateinamerikas ist ein schier grenzenloses Paradies – und ein abwechslungsreiches: Während westlich der Anden, im chilenischen Teil, wilde Wälder, mächtige Gletscher und prächtige Bergmassive die Landschaft prägen, trifft man östlich davon, im argentinischen Teil, auf nicht enden wollende Weiten und sehr viel Wind. Stephan Zenz und Fredi Rasinger haben auf 3.000 km den wilden Süden Südamerikas auf dem Rad durchquert.
Bericht: Stephan Zenz
Auf dem Flug nach Santiago de Chile ist der Entschluss von Fredi und mir längst gefasst: Wir möchten das dünnbesiedelte Patagonien mit dem Fahrrad durchqueren, bis hinunter zur Südspitze, nach Ushuaia, der „letzten Stadt der Welt“.
Mit dem Fahrrad Landschaften und Kulturen zu „erfahren“ ist für uns eine ganz besondere Art des Reisens. Man bewegt sich unabhängig und aus eigener Kraft fort, mit einer Geschwindigkeit, die es erlaubt alle Eindrücke am Weg unverfälscht und intensiv wahrzunehmen. Man ist den Elementen unmittelbar ausgesetzt und muss auf alles gefasst sein. Ist das Rad dann auch noch beladen wie ein Packesel, fällt man meist auch auf wie ein bunter Hund und kommt schnell ins Gespräch mit den unterschiedlichsten interessanten Leuten. Ein aufregendes Vagabunden-Dasein!
Von Santiago aus reisen wir zunächst mit dem Bus circa 800 km Richtung Süden, nach Valdivia, an die Pazifikküste Chiles. Da Patagonien keine wirklich festgesetzten Grenzen besitzt, machen wir diesen netten Ort zum Ausgangspunkt unserer Tour. Nach ein paar Tagen Akklimatisation geht es los ins große, unbekannte Abenteuer.
Ungemütlicher Start
Schon der erste Tag hat Herausforderungen parat: Neben der für uns im Jänner ungewohnten Hitze werden wir von unzähligen sehr lästigen Pferdebremsen („Tábanos“) gequält. Auf dem groben Schotter der Nebenstraßen kommen wir nur sehr mühsam voran, was es den Fliegen wiederum nicht gerade schwer macht, uns zu verfolgen. Dass diese Reise keine Spazierfahrt wird, ist uns schon jetzt klar. Dafür finden wir uns in einer faszinierenden, neuen Umgebung wieder und die gewohnten Alltagsbedürfnisse schrumpfen auf wirklich essentielle Dinge wie Essen, Trinken, Schlafen (und schneller sein als die Pferdebremsen) zusammen – was sehr befreiend auf uns wirkt.
Nach einigen Tagen überqueren wir einen steilen Pass über die Anden in Richtung Argentinien, um uns in der seenreichen Gegend rund um San Carlos de Bariloche wiederzufinden. Weiter südlich, um den Ort Futaleufú, queren wir wieder nach Chile. Von hier an geht es auf der Carretera Austral (Ruta 7) in den dünnbesiedelten Süden des Landes. Die Route besteht größtenteils aus losem Schotter („Ripio“) und ist von ständigen Höhenschwankungen geprägt. Die zum Teil sehr schlechten Straßenverhältnisse fordern unsere Geduld und Ausdauer – kleinere „Wehwehchen“ an unseren Räder stehen an der Tagesordnung.
Richtung Süden – Eine Fahrt ins Unbekannte
Je südlicher wir gelangen, desto unbesiedelter und unberührter präsentiert sich die Gegend. Vor uns breiten sich unglaubliche Landschaften aus, die uns nur so ins Staunen versetzten. Jeder Tag ist eine Fahrt ins Unbekannte. Am Weg treffen wir ab und zu auch auf andere Radreisende mit denen wir wertvolle Tipps über die Route austauschen können. Mit einigen ergeben sich tolle Bekanntschaften und wir fahren kleinere Abschnitte zusammen.
Unsere atemberaubenden Tagesetappen führen vorbei an prachtvollen Seen, massigen Gletschern und beeindruckenden Landschaften, immer weiter in den Süden. Zwischen Cochrane und Villa O’Higgins durchqueren wir einem 230 Kilometer langen Abschnitt ohne Zivilisation. Im letzten Drittel dieser Strecke übernachten wir in einem fast leeren Flussbett. Als wir um circa 6 Uhr früh plötzlich aus dem Schlaf gerissen werden und einem Wasserbett-ähnlichen Untergrund spüren, wird uns schnell klar, dass es in der Nacht zu regnen begonnen hat und unser Camp jetzt mitten im anschwellenden Fluss steht. Und dass wir uns in einer äußerst gefährlichen Lage befinden. Vom Adrenalin angefeuert, springen wir aus dem Zelt ins eisige Wasser. Knietief durch den Fluss watend müssen wir im Dunkeln, und während es noch immer stark regnet, all unser durchnässtes Equipment und uns selbst ans trockene Ufer retten.
Den Rest des Tages radeln wir sogut wie ohne Pause in nasser Kleidung, bis wir uns im letzten Ort der Carretera Austral, in Villa O’Higgins, von unserem nasskalten Erlebnis erholen können und seit Langem wieder mal den Komfort eines Betts genießen. Am nächsten Tag erkunden wir das Dorf – es fühlt sich ein wenig wie das Ende der Welt an. Seine Lage in einem beeindruckenden Tal markiert das Ende für motorisierte Reisende. Fußgänger und Radfahrer können aber mit zwei Seen- und einer Landbrückenüberquerung wieder nach Argentinien, genauer nach El Chaltén, reisen.
Führungslos im Fischerboot
Nur zwei Tage nach unserem Unglück im gefluteten Flussbett werden unsere Nerven erneut auf die Probe gestellt: Mit ein paar anderen Reisenden überqueren wir in einem kleinen Fischerboot frühmorgens den wundervollen Lago O’Higgins Richtung Argentinien. Kurz vor dem Festland fängt es sehr kräftig zu stürmen an. Das kleine Boot schwankt fast hilflos zwischen den Wellen – doch es kommt noch schlimmer. Jeder an Bord ist damit beschäftigt, gegen seine Übelkeit anzukämpfen als es plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall gibt und der Motor ausfällt. Das Schiff rotiert jetzt völlig unkontrolliert auf der vom Wind gepeitschten See. Dass der Kapitän panisch schreit, vermag uns auch nicht gerade zu beruhigen. Irgendwie schaffen wir es doch, ans Festland zu tuckern, wo wir erfahren, dass die Steuerachse gebrochen ist.
Heilfroh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, radeln wir auf grobem Schotter circa 22 Kilometer zur Laguna del Desierto. Auf den letzten 6 Kilometern müssen wir unsere vollbepackten, bis zu 55 kg schweren Räder den unwegsamen Trampelpfad hinunterschleppen. Dabei gilt es mehrere Bäche und Sümpfe zu queren und die Drahteseln immer wieder über große Wurzeln und Steinbrocken zu hieven. Am Abend – mit tollem Ausblick auf die Laguna del Desierto und den nebelverhangenen mächtigen „Fitz Roy“ – können wir mit anderen Reisenden wieder über unser Sturmerlebnis am See lachen.
Am nächsten Morgen geht es mit einer weiteren Fähre über die Laguna nach El Chaltén. Nach über 1.000 km Schotter haben wir wieder Asphalt unter den Rädern – ein geradezu luxuriöses Gefühl. Hinter dem kleinen Bergsteigerdorf El Chaltén erhebt sich im Parque Nacional Los Glaciares wie ein steinernes Schloss das Bergmassiv rund um den Fitz Roy und Cerro Torre. Magisch!
Nach den rumpligen Schotterpisten durch dicht bewaldete Gebirgstäler zeigt uns Patagonien ab jetzt sein anderes Gesicht. Beim Verlassen von El Chaltén blicken wir in einen nicht enden wollenden Horizont. Die Straßen sind asphaltiert und das Land trocken und flach – so flach, dass der Wind leichtes Spiel mit uns hat. Bei Windböen von bis zu 120 km/h und mehr ist das Fahrradfahren praktisch unmöglich. Wir beobachten daher genauestens die Windberichte. Einmal ist der Rückenwind so kräftig, dass wir unsere Pedale binnen einer Stunde vielleicht zwei-oder dreimal benutzen – die Bremsen dafür wesentlich öfter. Unsere Oberkörper geben ein gutes Segel ab und so rauschen wir mühelos mit 40 km/h und mehr durch die Einöde. Nach unserer bisherigen Maximalgeschwindigkeit von 15 km/h ein tolles Gefühl – doch die Sache hat auch einen Haken. Einfach am Straßenrand stehen bleiben, um sich was zum Essen zu kochen, ist in dieser Umgebung unmöglich. Daher nützen wir jede Brücke als schützenden Unterschlupf.
Wind, Wind, Wind...
Nach 90 Rückenwind-Kilometern macht die Straße eine 90-Grad-Wende. Plötzlich verwandelt sich unser meditatives Gleiten zu einem Kampf gegen den erbarmungslosen Seitenwind. Abgesehen von der körperlichen Anstrengung ist das auch eine psychische Übung, die darin besteht, sich von dem ohrenbetäubenden Lärm des Windes nicht in den Wahnsinn treiben zu lassen. Bei Seiten- und Gegenwind ist es unmöglich ein herannahendes Fahrzeug zu hören. Wir fahren meist in leichter Schräglage gegen den Wind gelehnt, da wir sonst von stärkeren Böen einfach über die Straße geschoben würden.
Es ist eine groteske Gegend: Die sanften Ockerfarben der Erde treffen auf das prächtige Blau des Himmels und haben eine sehr beruhigende Wirkung. Zugleich ist das Land aber so sehr vom Wind dominiert, dass es sich hier einfach nicht lange aushalten lässt. Bis auf ein paar Büsche, Guanacos (gehören zur Familie der Lamas) und Gürteltiere findet man hier auch nicht allzu viel Leben.
Nach einem Abstecher zum beeindruckenden Perito Moreno Glaciar beschließen wir aufgrund des Windes unsere vorgesehene Route zu ändern. Wir fahren Richtung Rio Gallegos an die Atlantikküste. 320 Kilometer, die wir dank kräftigem Rückenwind in nur zwei Tagen erledigen. Dabei stoßen wir nur auf ein paar Autos, jede Menge Guanacos und eine Tankstelle, in deren Hinterhof wir übernachten dürfen.
Es geht stetig Richtung Süden und nach einigen Tagen erreichen wir Tierra del Fuego. So romantisch das Feuerland auch klingen mag: Wir empfinden es eher als eine öde, von Ölbohrtürmen durchsetzte Steppe. Der Wind treibt weiterhin sein launisches Spiel mit uns, außerdem wird es zunehmend kälter. Die langen Tage im tiefen Süden bescheren uns andererseits so manch magischen Sonnenuntergang.
Vorbei an Rio Grande, rasten wir noch zwei Tagen in der berühmten „Panaderia La Union“ in Tolhuin – einer Bäckerei, die Radreisende umsonst zum Übernachten aufnimmt. Dann ist es soweit, ein fast etwas surreales Gefühl: Mit einem Mix aus Triumpf und Wehmut nehmen wir die letzte Tagesetappe in Angriff, auf der sich plötzlich wieder Berge und Wälder vor uns auftun.
Knapp 3.000 km, circa 28.000 Hm und nur zwei platte Reifen später erreichen wir das ins Abendlicht getauchte Ushuaia. Hier erholen wir uns noch eine Woche, lassen unser Patagonien-Abenteuer, auf dem sich jeder von uns wieder ein wenig besser kennengelernt hat, Revue passieren. Es wird mit Sicherheit nicht die letzte Radreise bleiben.
Infos und Adressen: Per Rad durch Patagonien, Südamerika
Beste Reisezeit: Patagonien bereist man im Sommer am besten zwischen November und Februar.
Verständigung: In Südamerika sprechen, verglichen mit Europa, nur wenige Menschen Englisch – das gilt auch für die Städte. Ein wenig Spanischkenntnisse sind absolut von Vorteil.
Fliegen mit Fahrrad: Ein Fahrradtransport im Flugzeug ist grundsätzlich nicht wirklich kompliziert.
- Man muss das Fahrrad gut geschützt verpacken (z.B. mit einem Fahrrad-Karton aus dem Radgeschäft). Dazu muss das Fahrrad soweit zerlegt werden, dass es in den Karton passt.
- Vor dem Flug ein wenig Luft aus den Reifen lassen, da während des Flugs ein anderer Luftdruck herrscht.
- Europäische Fluggesellschaften haben für die Fahrradmitnahme meistens eine Preispauschale für innerhalb Europas und eine für außerhalb.
Ausrüstung für eine Radreise:
- Ich bevorzuge es mit Gepäckstaschen vorne und hinten am Rad anstatt eines Rucksacks zu reisen, da es für den Rücken und letztendlich auch für den Hintern angenehmer ist. Alle Taschen und das Zelt sollten unbedingt wasserdicht sein. Für empfindliche Hintern empfiehlt sich Hirschtalgcreme!
- Im argentinischen Teil der Strecke ist der Wind erbarmungslos. Der Windchill-Effekt macht sonnige Sommertage oft eisig kalt. Bei einem Wind von 100 km/h und mehr kann man im Zelt nicht mehr wirklich gut schlafen, daher sind Oropax ganz hilfreich.
- Ich hatte einen Wasserfilter mit, aber in den menschenleeren Regionen haben wir auch problemlos einfach aus dem Fluss getrunken.
- Vor allem in Patagonien sollte man immer genügen Proviant für 3-4 Tage mithaben, solange dauert es oft bis zur nächsten Ortschaft.
- Bargeld ist essentiell. In den vielen kleinen Ortschaften entlang der Carretera Austral gibt es weder Bankomaten noch die Möglichkeit, mit Bankomat- oder Kreditkarte zu bezahlen.
Unterkünfte: Da es oft hunderte Kilometer keine wirklichen Ortschaften gibt, kann man Besitzer einer Estancia fragen, ob sie einen auf ihrem Grund übernachten lassen. Ab und zu trifft man in Patagonien auf Campingplätze, Hostels und Unterkünfte, die extra für Radreisende ausgestattet sind.
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