Piz Badile: Bergeller Granitriese
Foto: Silvian Metz
Hoch über dem Val Bondasca im Norden und dem Val Masino im Süden erhebt sich der Piz Badile. An seiner Nordkante und in der Nordwand wurde Alpingeschichte geschrieben. Ein Ausflug in den Bergeller Granit.
Rabea Zühlke aus dem Bergwelten Magazin Juni/Juli 2020 für die Schweiz
Kurz nach vier Uhr morgens, Mitte August. Im Licht der Stirnlampe marschiert Gian Luck einen schlammigen Pfad hinauf. Über feuchte Wurzeln, nasse Granitplatten. Die Silhouetten der mächtigen Granitriesen lassen sich in der Dunkelheit nur erahnen. Plötzlich kracht es. Fels donnert einige hundert Meter von uns auf die letzten Reste des Gletschers.
„Da kam wohl wieder was runter“, sagt der junge Bergführer unaufgeregt und springt leichtfüßig über ein paar Granitblöcke. Beim Nachbarn des 3.308 Meter hohen Piz Badile, dem Piz Cengalo (3.369 m), sind Felsabbrüche keine Seltenheit. Rund um den berühmten Piz Badile beginnt der jüngste Granit der Alpen nämlich zu bröckeln – was nicht zuletzt der gewaltige Bergsturz vor drei Jahren zeigte, bei dem hunderttausende Tonnen Schlamm und Fels ins Bergell rauschten.
Gian klettert unbeeindruckt ein paar Meter übers Blockgelände ab und blickt zum Schneefeld am Fuß des Piz Badile. Vor und hinter uns tummeln sich die Lichtpunkte von rund zwanzig Seilschaften, die aus der ganzen Welt gekommen sind, um eine der bekanntesten und vielleicht sogar schönsten Linien der Alpen zu klettern: die Nordkante am Piz Badile.
Einen Tag zuvor sitzen wir auf der sonnigen Hangterrasse in Soglio. „La soglia del paradiso“, die Schwelle zum Paradies, nannte einst der italienische Künstler Giovanni Segantini das kleine Dorf mit den kopfsteingepflasterten verwinkelten Gassen, den eng stehenden alten Häusern und den verwunschenen Gärten.
Von hier, auf knapp 1.100 Metern, eröffnet sich der Blick auf die majestätischen Granitriesen der gegenüberliegenden Talseite: angefangen beim Ago di Sciora (3.205 m) über die Pizzi Gemelli (3.262 m) und den Piz Cengalo (3.369 m) bis hin zum berühmten Piz Badile (3.308 m).
Einige Touristen und Wanderer frühstücken auf der Terrasse des historischen Hotels Palazzo Salis. Sie blättern in der Zeitung, trinken Cappuccino. Mit seinen unzähligen Wanderwegen lockt das Bergell viele Genusswanderer an, aber genauso Künstler und Touristen, die der Hektik des Alltags entfliehen wollen.
Denn wer die Reise über den Malojapass in den Südosten der Schweiz unternimmt, spürt nicht nur das milde, fast schon mediterrane Klima. „Im Bergell vergeht die Zeit langsamer“, sagt Gian, dessen Großmutter einst in einem der alten Berghäuser hoch über Soglio lebte.
Besonders im Herbst, wenn die Edelkastanien in den Hainen von Brentan, oberhalb von Castasegna, geerntet werden, ist die Bergregion rund um den Piz Badile wahrlich ein kleines Paradies. In dieser Zeit entdecken Wanderer und Touristen die Bergeller Kulturlandschaft von einer einzigartigen Seite. Nicht nur die Wanderungen durch die Kastanienhaine, auch das kulinarische Angebot ist unvergleichlich.
Klettergeschichte am Piz Badile
Doch so ruhig und friedlich die Dörfer Stampa, Vicosoprano und Bondo sind, so wild und abenteuerlich sind die markanten Berge der Scioragruppe. Dabei steht vor allem einer im Rampenlicht: der 3.308 Meter hohe Piz Badile. Seinen trichterförmigen Plattenfluchten verdankt er seinen Namen – badile ist das italienische Wort für Schaufel.
So ragt die ungeheure Schaufel zwischen dem Val Bondasca im Norden und dem italienischen Val Masino im Süden in den Himmel. Der dominierende Granitberg der stark zerklüfteten Berggruppe wird einzig von dem östlich liegenden Piz Cengalo überragt.
„Die Nordostwand zählt zu den sechs großen Wänden der Alpen. Sie ist weltbekannt“, sagt Gian. In der Bergsteigerschule Pontresina gehört die anspruchsvolle Via Cassin durch die Nordostwand genauso wie die berühmte Nordkante zu den viel gefragten Klettertouren im Bergell.
Von Alfred Zürcher und Walter Risch, den Erstbegehern der Nordkante, über Riccardo Cassin bis hin zu Hermann Buhl: Viele berühmte Kletterer schrieben am Badile Geschichte. Während die einfachere Südflanke schon 1867 erstbestiegen wurde, versuchten sich wagemutige Bergsteiger erst Jahrzehnte später an der Nordseite des Bergs.
Am 4. August 1923 gelang Alfred Zürcher und seinem Führer Walter Risch die Erstbegehung der 1.200 Meter langen Nordkante. In der anspruchsvollen Nordostwand endete der Durchstieg im Juli 1937 dagegen in einer Tragödie: Zwei Seilgefährten des italienischen Erstbesteigers Riccardo Cassin starben im Abstieg an Erschöpfung.
Die Via Cassin lag zu der Zeit nicht nur wegen der Abgeschiedenheit und der Länge, sondern auch wegen der zu kletternden Schwierigkeiten an der Grenze des Möglichen. 1952 setzte der Österreicher Hermann Buhl am Piz Badile einen Meilenstein: Er durchstieg die Nordostwand als Erster im Alleingang, nachdem er tags zuvor mit dem Fahrrad über 160 Kilometer aus Landeck in Tirol angereist war.
Zerbröckelndes Paradies
Bis heute sind die Auswirkungen des Bergsturzes von 2017 zu spüren. „Am Piz Cengalo wird permanent gemessen und der Berg verstärkt überwacht“, erklärt Gian, als wir einen Helikopter auf dem Weg zur Capanna Sasc Furä über uns sehen.
Obwohl der Granit von weitem so kompakt wirkt – an ihm nagt der Zahn der Zeit. Viele Wanderwege im Val Bondasca wurden zerstört, sind seither gesperrt oder nur teilweise begehbar. So auch die mehrtägige Alpinwanderung „Sentiero Alpino Bregaglia“, die bis heute nur noch von Maloja bis Vicosoprano begangen werden kann.
Vom Malojapass führt die Wanderung anfangs an dem schimmernden Lägh da Cavloc vorbei, der schon im Jahr 1922 Malern wie Giovanni Giacometti als Sehnsuchtsmotiv diente. Über die Ausläufer des Fornogletschers wird das erste Tagesziel erreicht: die Capanna del Forno (2.574 m).
Über den Pass da Casnil geht die Route abwechslungsreich, aber steiler bis zur Capanna da l’Albigna (2.333 m). Von hier müssen Wanderer nach Pranzaira absteigen – der Übergang zur Capanna Sciora und zur Capanna Sasc Furä ist seit dem Bergsturz unpassierbar. Auch die Capanna Sasc Furä selbst, die direkt unterhalb des Piz Badile liegt, ist von dem Bergsturz betroffen.
Der zweistündige klassische Zustieg zur Hütte bleibt nach wie vor gesperrt. Stattdessen hat die Gemeinde Bergell einen alten, historischen Weg instand gestellt. Auf der Hütte ist von der Bergeller Langsamkeit nicht mehr viel zu spüren. Kletterer aus aller Welt genießen hier die Sonne.
Es wird deutsch, italienisch, französisch und englisch gesprochen. Und alle haben ein Ziel: den Piz Badile. Von der Terrasse zeigt sich die imposante Nordkante in seiner vollen Länge: Gut 25 Seillängen bis in den fünften Schwierigkeitsgrad und rund 1.200 Meter Kantenlänge sind bis zur Gipfelpyramide zu bewältigen. Heidi nimmt Gian in die Arme, sie strahlt: „Schön, dich wiederzusehen.“
Seit 2007 ist Heidi Altweger Hüttenwirtin der Capanna Sasc Furä. Sie nippt an ihrem Kaffee. Ihr durchtrainierter Körper und ihre großen Hände lassen erahnen, dass sie, wie die meisten Hüttengäste hier, in der Vertikalen zu Hause ist. Mit 50 Jahren hat die gebürtige Österreicherin die Hütte übernommen. „Davor war ich viel klettern. Im Ausland oder in der Schweiz – natürlich auch am Piz Badile“, sagt Heidi und begrüßt nebenbei lächelnd neue Hüttengäste.
Heidi ist nicht nur Hüttenwirtin, sondern auch Ansprechpartnerin für alle Fragen rund um den Badile – von den Verhältnissen bis zum Abstieg auf der italienischen Seite oder dem Abseilen über die Kante. In der Stube zieren Bilder des Bergs die Wände: einmal im tiefsten Winter mit Eis und Schnee überzogen, dann die wilden Kamine der Cassin-Route.
„Es ist schon faszinierend: Manchen Menschen im Engadin sagt der Berg nichts. Doch wenn du Kletterer aus Amerika triffst und man vom Piz Badile spricht, leuchten die Augen. Mich überrascht es immer wieder, wie weltberühmt dieser Berg ist.“ Und Heidi ist sich sicher: „Ohne den Piz Badile gäbe es die Hütte nicht.“
Zwar würden durch den gesperrten Weg kaum noch Tagesgäste kommen, die vorher zahlreich auf der Hüttenterrasse saßen, doch unter Kletterern bleibt der Piz Badile hoch im Kurs. Um vier Uhr morgens sitzen wir mit zwanzig anderen Seilschaften beim Frühstück.
Schnell schlingen die Kletterer Brote mit Konfitüre runter, trinken Kaffee und schnappen sich hektisch ihre Rucksäcke: Wer als Erster den Einstieg der Nordkante erreicht, hat freie Bahn – und umgeht die Gefahr, im Stau der Seilschaften ausgebremst zu werden. In der Dunkelheit laufen wir über nasse Platten und klettern über einige größere Geröllblöcke Richtung Nordkante.
Nach gut einer Stunde erreichen wir das Schneefeld unterhalb der Kante, wo wir Klettergurt, Helm und Steigeisen anlegen. Gian geht zügig. Wir überholen einige Seilschaften, die wir erst spät in der Nacht auf der italienischen Seite wiedersehen werden.
Kletterfinken statt Bergschuhe
Es beginnt zu dämmern. Kurz vor sechs sind wir in der Scharte am Fuß der Nordkante auf 2.590 Metern. Wir tauschen Bergschuhe gegen Kletterfinken. Von hier eröffnet sich der Blick in die gewaltige, nach innen gewölbte Nordostwand, durch die die Via Cassin führt. „Mit dieser Route wurde der Piz Badile auch international bekannt“, sagt Gian, „doch sie ist heikel, wenn das Wetter umschlägt.“
Ähnlich wie die Erstbegeher erleben viele Kletterer die plötzlichen Wetterstürze am Piz Badile. Dann werden alpine Abgeschiedenheit, Höhe und Wandlänge schnell zu einer ernsthaften Angelegenheit, die nicht selten in einer Rettungsaktion endet.
„Aber auch die Nordkante sollte man nicht mit Plaisirklettern verwechseln: Die Schwierigkeiten halten sich im Rahmen, aber mit über 1.200 Klettermetern ist es immer noch eine lange, hochalpine Unternehmung.“ Vor wenigen Jahren wurden deswegen die Standplätze zur besseren Absicherung vom Bergführerverein Pontresina saniert.
Anders als am Cengalo ist der Granit am Badile kompakt. Der Fels ist rau, und auf den Platten finden sich immer wieder kleine Tritte. Gian klettert leichtfüßig, fast tänzelnd die ersten paar Seillängen im leichten Gelände hinauf. Mit neun Jahren führte Gians Vater seinen Sohn das erste Mal auf den Piz Badile.
In den frühen Morgenstunden stiegen sie damals zur Hütte auf, dann direkt weiter in die Kante und anschließend wieder zurück ins Tal. Mit elf machte Gian die „Cassin“, mit zweiundzwanzig wurde er Bergführer. Wir klettern weiter über ein paar steile Aufschwünge, dann wieder durch Risse, Verschneidungen und über Platten.
Nach einigen Seillängen erreichen wir die nach einem der Erstbegeher benannte Rischplatte: eine glatte Flanke mit einem kurzen Aufschwung. Die Kletterei wird etwas steiler, bis man die Zürcherplatte erreicht, wo präzises Antreten auf dem glatten Granit gefragt ist. Gleich darauf folgt die Schlüsselstelle: eine griffarme, steile Wand, durch die Gian jedoch problemlos durchsteigt.
Nach ein paar Stunden liegt die schier endlose Kante fast hinter uns, weiter unten steht die kleine Capanna Sasc Furä, und dahinter liegt, fast nicht mehr erkennbar, das Val Bondasca. Im immer flacher werdenden Blockgelände gehen wir die letzten Meter zum 3.308 Meter hohen Gipfel.
Um halb elf, nach 4,5 Stunden auf der Kante, stehen wir an der Blechnadel, die den Gipfel markiert. Mit uns zwei Schweizerinnen und eine britische Seilschaft. Wir blicken ins ferne Berner Oberland, im Osten auf den Piz Cengalo und zurück auf die Nordkante, an der sich eine Ameisenstrasse aus Kletterern gebildet hat.
Das Abseilen an der Kante ist eine Möglichkeit – doch ein Unterfangen, das bis in die frühen Morgenstunden andauern kann: über 1.000 Meter von Standplatz zu Standplatz in einem Gelände, in dem Seilverhau vorprogrammiert ist. Über die Abseilstellen auf der Südseite sind wir nach gut zwei Stunden am Wandfuß.
Wir halten uns rechts über wegloses Blockgelände zum sichtbaren Rifugio Gianetti und sitzen um zwei Uhr mit gutem italienischem Kaffee auf der Hüttenterrasse. Anders als auf der Capanna Sasc Furä tummeln sich auf der Terrasse viele Tagesausflügler mit ihren vierbeinigen Begleitern, athletische Trailrunner und gemütliche Wanderer.
Nach all den Anstrengungen des Tages ist klar: Wir bleiben heute Nacht auf der Gianetti-Hütte. Am nächsten Morgen starten wir früh. In San Martino wartet ein Taxi auf uns, das uns aus dem Val di Mello zurück nach Bondo bringen wird. „Hier wurde so viel Klettergeschichte geschrieben“, sagt Gian.
Noch einige Male blicken wir auf die Granitflanken des Piz Badile zurück, dann verschwindet der Berg im dichten Wolkenmeer oberhalb der Hütte. Nur ein paar steile Granitspitzen blitzen in den Himmel – und lassen erahnen, welche kühnen Abenteuer sich an diesem wilden Berg bereits zugetragen haben.
Das sind die Tipps für Kletterer, Wanderer und Genießer aus dem Magazin im Detail:
1. Klettern
Der Piz Badile ist mit seinen 3.308 Metern Höhe zwar nicht der höchste Berg der Scioragruppe. Doch seine bewegte Besteigungsgeschichte und die imposanten Plattenfluchten machen in zum absoluten alpinen Klassiker. Diese zwei Routen solltest du auf keinen Fall verpassen:
a) Piz Badile Nordkante
Stolz, präsentiert sich die Nordkante des Piz Badile steil und weit über der Campanna Sasc Furä in den Himmel ragend. Mit über 20 langen Seillängen ist die Tour doppelt so lang wie übliche Touren in den Alpen. Darüber hinaus ist selbst zu sichern. Wer die Route bewältigt hat, kann mit Recht stolz auf sich sein.
Piz Badile Nordkante
b) Cassin - die Piz Badile Nordostwand
Die Nordostwand des Piz Badile ist weltbekannt und zählt zu den sechs grossen Wänden der Alpen. Abgeschiedenheit, Länge und Kletterschwierigkeiten machen die Durchsteigung der Wand zu einem großen Abenteuer.
Cassin - Piz Badile Nordostwand
2. Wandern
Doch auch wer es gemütlicher mag und lieber wandern geht, wird rund um den großen Granitriesen fündig. Die Wandermöglichkeiten im Bergell sind schier grenzenlos. Dies kann man sogar wörtlich verstehen, denn das Val Bregaglia nicht nur zwischen 690 und 3.369 Metern, sondern auch an der Grenze zu Italien. Besonders beeindruckend ist die landschaftliche Vielfalt: Von der imposanten hochalpinen Umgebung steigt man rasch in Regionen mit milderem Klima und mediterraner Flora ab.
a) Sentiero Alpino Bregaglia
Aufgrund des massiven Bergsturzes kann der Sentiero Alpino Bregaglia nur noch von Maloja bis nach Vicosoprano begangen werden. Trotzdem lohnt sich die landschaftlich reizvolle Tour. Am ersten Tag führt die Route vom Malojapass auf gemütlichen Wegen bis zur Capanna del Forno. Am zweiten Tag ändert sich der Charakter der Landschaft dramatisch. Auf einem anspruchsvollen alpinen Wanderweg gilt es einige steile Passagen zu bewältigen bevor man die Capanna da l’Albigna erreicht.
b) Sentiero Panoramico: Höhenweg Casaccia–Soglio
Der Höhenweg Casaccia–Soglio, auch Sentiero Panoramico genannt, führt durch Laubwälder und Alpweiden an der Bergeller Nordflanke entlang. Die Wanderung startet in Casaccia, dem letzten Dorf vor dem Malojapass, führt über Roticcio und weiter bis nach Soglio.
Sentiero Panoramico - Höhenweg von Casaccia nach Soglio
c) Über den Trubinasca-Pass
Die Wanderung über den Trubinasca-Pass führt von der Capanna Sasc Furä über den Passo Trubinasca (2.701 m) zum Rifugio Brasca (1.304 m) und weiter bis nach Novate Mezzola. Die anspruchsvolle Wanderung geht am Fuss der Nordwestwand des Piz Badile vorbei, weiter über den kettengesicherten Passo della Trubinasca und durch das schöne Val Codera.
Über den Trubinasca-Pass
3. Hütten
Diese Hütten sind die perfekten Basislager für alle Wanderer, Kletterer und Genießer.
Capanna Sasc Furä
Gianettihütte
Fornohütte
Brascahütte
Capanna da l'Albigna
- Alpinwissen
Die Fornohütte: Juwel im Bergell
- Berg & Freizeit
Skihochtour: Auf den Monte Rosso über die SW-Flanke
- Berg & Freizeit
Auf zur Chamanna Coaz