Alle Wege führen nach Fontainebleau
Kunst und Kultur, Savoir-vivre und Sport: Das muss Frankreich sein. Der stellvertretende Chefredakteur von Bergwelten Klaus Haselböck hat sich mit dem Campervan auf eine Tour de France in fünf Akten begeben.
Wenn der achtzehnjährige Sohn nach bestandener Matura fragt, ob wir mit ihm einen Roadtrip nach Frankreich unternehmen wollen, kann die Antwort nur lauten: „Bien sûr, sehr gerne.“
Das passende Gefährt fanden wir bei Roadsurfer: In einen Ford Nugget passen neben dem Felix und uns Eltern sogar noch ein kulturbeflissener Freund aus der Nachbarschaft hinein. Auch beim Gepäck entpuppt sich der Van mit seinen versteckten Fächern und Laden sowie den gut angelegten Schränken als kleines Raumwunder. Unerschöpflich sind die Kapazitäten des Nuggets trotzdem nicht. Essenzielles wie Nahrungsmittel, Kochutensilien, Schlafsäcke und Kleidung hat beim Einpacken deshalb Priorität, knapp gefolgt von Kletterschuhen, Lauf-Zeug und Apnoeflossen – dafür musste sich Platz finden.
Crash-Pads oder Fahrräder blieben hingegen zu Hause, auch in Hinblick auf die Option, den bewahrten Raum mit Champagner-Kisten aufzufüllen. Schließlich fahren nur Anfänger mit prall gefüllten Koffern in ferne Länder. Zu viel hineinzupacken heißt außerdem, sich das Leben durch ständige Suchaktionen nur kompliziert zu machen. Weniger ist also mehr – bequem sitzen und schlafen wollen wir ja schließlich auch.
Apropos Schlafen: Wir Eltern schnappten uns die Matratze im aufklappbaren Hochdach des Nuggets. Die Jugend setzte mit ihren fast zwei Metern Länge zuerst auf das Kuppelzelt, mit der Fortdauer der Reise entdeckten sie die umgelegten Sitze im Wohnbereich des Vans für sich.
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Eine flexible Entwicklung gestanden wir uns auch bei der Reiseplanung zu: Zwei Wochen Zeit hatten wir, das war fix, und wir wollten sie hauptsächlich in Frankreich verbringen. Im Land der Vielfalt und des Savoir-vivre sollte – so unser Deal – für jeden etwas dabei sein: eine gute Portion Kultur, ebenso Historie, reichlich Lebensgenuss und natürlich Sport. Letzterer war spätestens im Wald von Fontainebleau, der Heimat für mehr als 20.000 Boulder, gesichert. Egal wo wir herumkurvten, wie wir unsere Strecke anlegten, irgendwann würden wir in Bleau aufschlagen und Hand an die genialen Sandstein-Blöcke legen.
Oui, Strasbourg
Von Wien aus rollten wir im Juli in Richtung Nordwesten los und schon auf der Westautobahn zeigte der poppig-gelbe Nugget seine Stärken: Mit dem Van, der auf dem Ford Transit aufbaut, cruist es sich wie mit einem großen Auto. Satt liegt er auf der Straße, gut hängt er am Gas, alle haben es gemütlich, der Sound des Radios passt auch und größere Städte – zuerst Reutlingen und einen Tag später Straßburg – sind mit ihm kein Horror-Szenario: Bei Parklücken hat man nicht das Gefühl, einen Flugzeugträger zu seinem Ankerplatz steuern zu müssen.
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Mit der Hauptstadt des Elsass, die gleich hinter der deutschen Grenze liegt, sind wir mitten im „Schnittpunkt Europas“ angekommen. In Straßburg tagt das Europäische Parlament als Beweis, dass Geschichte nicht unbedingt eine fortwährende Verschlechterung bedeuten muss. Den klingenden Namen, der aus der EU nicht wegzudenken ist, hört man oft. Umso wichtiger also auch einmal zu sehen, was hier so abgeht: Vergnügt streunen wir durch die farbenfrohen Gassen, genießen deren Lebendigkeit und Pracht, legen unsere Köpfe in den Nacken, um die Kathedrale Notre-Dame zu bestaunen und spülen den Flammkuchen mit Cidre, dem französischen Apfelwein, hinunter. Der Trip, das ahnten wir bereits am Spanferkelmarkt zwischen den Fachwerkhäusern bei jedem Bissen, muss gut werden.
Verdun: Drückende Geschichte
Den Campingplatz, auf dem wir am nächsten Tag erwachen, haben wir keinesfalls Wochen vorher reserviert. Wollten wir uns doch gar nicht festlegen, an genau diesem Tag hier in Straßburg sein zu müssen. Das Internet machts möglich, spontan auszuchecken, wo sich ein Plätzchen findet oder noch zu fahren, bis wir unseren Hafen erreicht haben.
Klar war für uns, dass es durch die Champagne, nunmehr ein Teil der Region „Grand Est“, weiter nach Norden ging. Als wir vorbei an Feldern und Weingärten brausten, tauchten wir in die Welten eines Ernst Jüngers und Erich Marie Remarque ein. Beide Literaten und Augenzeugen des großen Grauens, das sich hier vor mehr als hundert Jahren abgespielt hat. Felix liest uns Text-Passagen vor und doch wirkt es durch die Scheiben des Vans so absurd, mit welcher Vehemenz, ja, wie industrialisiert hier das gegenseitige Morden einst stattgefunden hatte. Verdun, eigentlich eine unscheinbare Kleinstadt, scheint selbst heute nur aus Zitadellen, Friedhöfen und Gedenkstätten zu bestehen. Gekämpft und gestorben wurde hier im Jahr 1916 scheinbar überall. Im Fort de Douaumont, einst Befestigungsanlage, heute Beinhaus, Mahnmal und Friedhof für 130.000 Soldaten, erreichten wir unsere emotionale Grenze. Erst als wir in Lille bei einem Feuerwerk Bier trinkend und Quiche Lorraine essend mit den Locals den 14. Juli, ihren großen Nationalfeiertag, feierten und uns hier genau richtig fühlten, löste sich der Schmerz wieder.
Zeitsprung in Rouen
Spontanität ist der Zauber jedes Roadtrips. Damit entsteht Raum für Überraschungen. Eine solche war für uns Rouen, die Hauptstadt der Normandie. Wir parken uns ein, wollen eigentlich nur Obst nachkaufen, erwarten nichts und, wow, machen plötzlichen einen Sprung ins Mittelalter.
In den verwinkelten Gassen ziehen sich die Dächer weit hinunter und scheinen uns zu behüten, als wir zwischen den Fachwerkbauten wie in einem Museumsdorf herumschlendern. Hinter jeder Ecke, auf jedem Platz gibt es Grund zum Staunen: der höchste Kirchturm Frankreichs etwa, der es mit seinen 151 Metern echt auf die Spitze treibt, während der pittoreske Uhrturm, der an Prag erinnert, unsere Augen kitzelt. Im „Salon du Thé“, der an eine Puppenstube denken lässt, werden wir mit Rhabarber-Rosen-Tart verwöhnt. Auch dem dunklen Mittelalter begegnen wir, das Yin funktioniert ohne das Yang nicht: In Rouen wurde Jeanne d’Arc der Prozess gemacht und die französischen Freiheitskämpferin gleich am Marktplatz der Stadt am 30. Mai 1431 verbrannt. Unweit davon findet sich einer der letzten Pestfriedhöfe Europas. Der „Schwarze Tod“ hatte die Stadt im 14. und danach nochmals im 16. Jahrhundert fest im Griff. Ganz friedlich wirkt der Ort, bei dem vier Kreuzgangflügel einen quadratischen Platz einrahmen, heute. Die Erinnerung wird – wie so oft – erst im Detail, in Form von Symbolen, die noch heute in den Balken zu erkennen sind, wach.
Étretat: Savoir-vivre
Wollen wir oder wollen wir nicht so richtig in die Tourismus-Hotspots eintauchen? Das haben wir uns bei unserer Tour de France mehrfach gefragt. Im Fall der Kreidefelsen, die beim Badeort Étretat so eindrucksvoll in den Ärmelkanal abbrechen, haben wir dann doch „oui“ gesagt. Bei der Parkplatzsuche konfrontiert waren wir – anders als die fetten Wohnmobile – mit dem gelben „Nugget“ auf der Sonnenseite: Wir konnten dort parken, wo auch die vielen, vor allem französischen Gäste, ihre Autos abgestellt haben.
Und ja, die Kreidefelsen, die auf keiner Postkarte der Normandie fehlen dürfen, sind einen Besuch wert. Zumindest für einen Tag. Der reicht aus, um auf den bis zu neunzig Meter hohen Klippen herumzuspazieren und von oben – zugegeben etwas neidvoll – die Seekajaker zu beobachten, die ihre bunten Schiffchen durch die Torbögen und rund um die Felsnadeln der Alabasterküste steuern. Zeit in den Wogen des Atlantiks zu schwimmen bleibt auch noch und natürlich um „Moules-frites“, also Miesmuscheln mit Pommes frites, zu essen. Wenn dann noch der Cidre kühl ist und uns am Strand die Sonne auf den Bauch scheint, steht fest: Spätestens hier, in Étretat, leben wir wie Franzosen in Frankreich und sind in Sachen „Savoir -vivre“ angekommen.
Fontainebleau: im Boulderhimmel
Ja, der Ford „Nugget“ hat auch eine Küche, in der sich ordentlich werken lässt. Nudeln oder die Füllung für Tortillas und Reisegerichte gehen sich da – hinter dem Auto bei geöffneter Heckklappe stehend – schon aus. Die Frage ist eher: Möchte man in einem Land wie Frankreich überhaupt kochen? Als wir in Fontainebleau, dem Boulderhimmel und eigentlichem Ziel der Reise, einrollten, setzten wir auf einen bewährten Kompromiss.
Bleau besteht ja nicht nur aus den unendlichen Möglichkeiten an Blöcken aller Schwierigkeitsgrade, die sich nie und nimmer in einem Urlaub, egal welcher Länge, wohl nicht einmal in einem ganzen Leben ausgehen. Das Tolle ist, dass die Wege in den mystischen Wald, der wie eine Symbiose aus Sandstrand und „Herr der Ringe“ wirkt, denkbar kurz sind. Meist braucht es keine drei Minuten zu den ersten Routen. Da lohnt es sich neben den Schuhen und den Crashpads, die sich in Sportgeschäften und sogar auf Campingplätzen für kleines Geld ausborgen lassen, gleich einen Picknickkorb mitzunehmen.
Und ja, deshalb sind wir in Frankreich: Da kommen neben den Baguettes feinster Ziegenkäse, Trauben, Oliven und Camembert, Dijonsenf, Mandelkuchen und eine Flasche Wein hinein. Bouldern, also die Züge am Sandstein umzusetzen, ist das eine. Von dem kann man bekanntlich den ganzen Tag zwar träumen, allein die Muskeln und Gelenke geben es nicht her, dies auch den ganzen Tag zu tun. Genauso wichtig ist in Bleau, den ehemaligen kaiserlichen Jagdgründen unweit von Paris, das Dazwischen, also das Projektieren, die Gespräche, das Lachen. Wenn dann noch der Picknickkorb dabei ist, bleibt die Zeit stehen und aus einem Urlaub wird Ewigkeit.