Eis ist der neue Pulverschnee
Sag bloß nicht Eislaufen dazu: Långfärdsskridskoråkning hat Kultstatus und ist in Schweden Volkssport wie bei uns das Skitourengehen. Unser bergverliebter Autor entdeckte eine völlig neue Art, den Winter im Flachland zuzubringen. Und war begeistert.
Traumhafte Pulverhänge, stabile Hochdrucklage, endlose Weitsicht: Findet man im winterlichen Schweden alles nicht. Dafür als Substitut ein monotones Grau in Grau, bedenklich wenig Tageslicht im Generellen und dazu eine eindrückliche Kälte, die bis ganz tief ins Innere kriecht. Warum ich als skitourenverwöhnter Tiroler trotzdem zwei lange, dunkle Winter in Schweden verbrachte, wenn doch in der Heimat die schönsten Abfahrten lockten? Gute Frage, Studium und so. Dabei habe ich mit Sicherheit viele tolle Pulvertage ausgelassen, dafür aber etwas völlig Neues entdeckt: Långfärdsskridskoråkning.
Neben ein paar Unterhosen und dem Laptop packt man meistens auch seine Leidenschaften mit in den Koffer, wenn man in ein fremdes Land zieht. In meinem Fall die Begeisterung für den Bergsport, Klettern im Sommer, Skitouren im Winter, es hilft halt nichts. Zwei Jahre Uppsala also, diese liebliche Studentenstadt nördlich von Stockholm, für zwei Jahre Flachland habe ich mich entschieden.
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Für den Sommer und Herbst fanden sich noch feuchte Granitblöcke im Wald, mit denen man die Klettersehnsucht zumindest ansatzweise befriedigen konnte. Aber irgendwann, wenn die Boulder mit einer dünnen Eisschicht überzogen sind, muss man sich dann doch eingestehen, dass es nun eigentlich Zeit für die erste Skitour wäre. Und dass diese auch erst Spaß macht, wenn die Steilheit des Geländes einen gewissen Prozentsatz überschreitet. Stattdessen Flachland, überall Seen, im Osten das Meer. Flat sucks?
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Auf zu neuen Ufern
Es gibt Tage, die könnten ein ganzes Buch füllen. Von einem dieser Tage will ich euch hier erzählen. So flach es auch in Südschweden sein mag, die Kombination aus kalten Temperaturen, Wasserflächen und relativer Schneearmut machen die Region um Stockholm zu einem der weltweit besten Spots für: Långfärdsskridskoråkning.
Den Sport zu erlernen dauert wahrscheinlich nur halb so lang, wie die Aussprache korrekt hinzubekommen. Vorausgesetzt, man konnte vorher schon einigermaßen solide Eislaufen und Skaten. International setzt sich der Betriff „nordic skating“ durch, gemeint ist damit nicht ein klassisches Eislaufen, wie wir es aus den Alpen kennen, sondern ein Eis-Skaten auf lange Distanzen. In Sachen Ausrüstung verwendet man Langlauf-Skating-Schuhe und die dazugehörige Bindung sowie Stöcke, Ferse locker, und circa 50cm lange Stahlkurven sowie die nötige Sicherheitsausrüstung. Sicherheitsausrüstung? Lest weiter.
Nach ein paar Übungseinheiten am lokalen See lernte ich dann schnell supermotivierte Locals kennen, die auf ganz andere Ziele scharf waren: Der Archipel, das Meer. Vorher dachte ich, dass Salzwasser vielleicht in arktischen Regionen friert, aber hier unten, um Stockholm? Offensichtlich tut es das. Aber das war nur die erste Lektion, die ich an diesem Tag draußen im Archipel lernte. Der Plan? Von Uppsala nach Stockholm, auf Eis-Skates, 40km. Die Erkenntnisse:
#1: Eis ist erstaunlich biegsam.
Es fühlt sich an, als ob man auf einem Boot wäre, das in den Wellen schaukelt. Ein rythmisches auf und ab. Nur, dass da kein Boot ist und unter deinen Füßen blankes Eis, das dich schaukelt. Schwer, das in Worte zu fassen, aber jedenfalls ein völlig neues Gesicht des viel zu oft unterschätzten Elements Wasser
#2: Eis ist deutlich vielfältiger, als bisher angenommen.
Es gibt, genau so wie beim Schnee, eine unendliche Bandbreite an Erscheinungsformen. Da gibt es zum Beispiel das „kärn is“, das „stöp is“, das „glass is“ … man kann ein Buch darüber schreiben. Eis verändert sich ständig mit den Temperaturen, dem Wind, dem Schneefall, der schmilzt und wieder gefriert. Wichtig ist jedoch am Ende, dass man einfach das nötige Feingefühl dafür entwickelt, welches Eis man bei welchen Bedingungen sicher befahren kann. Vergleichbar mit einem Gespür für Lawinen im alpinen Gelände.
#3: 40km zu Skaten ist leicht.
Wenn man dem Wind im Rücken hat. Und die Oberfläche passt. Das perfekte Eis, das ist das „schwarze Eis“, glatt wie ein Spiegel und durchsichtig. Das ist der heilige Grahl, den hier alle suchen. Und auf dem lässt es sich so richtig Gas geben. Das Bremsen, das ist eine andere Geschichte.
#4: Schwäne können ohne Wasser nicht starten.
Außerdem schauen die Vögel aus der Nähe dann noch deutlich größer aus, als angenommen. Warum das relevant ist? Damit die Bilder hier richtig interpretiert werden, wir haben auf unserer Tour de force zwei dieser majestätischen Vögel vom Eis umschlossen vorgefunden, unfähig, hinaus ins offene Meer zu gelangen. Die Rettungsaktion war spannend, jedenfalls probiert haben wir es.
#5: „Schon dick genug“
übersetzt sich man am besten mit furchteinflößend. Die Philosophie meines Freundes Mats dazu: „Wenn das Eis hält, dann hält es. Also keine Gefahr. Dickes Eis ist langweilig“. Nur, wenn man sich bewusst macht, dass das grenzwertig dünne Eis, auf dem man gerade seine 80 Kilogramm platziert hat, gestern noch im flüssigen Aggregatszustand war, und darunter ziemlich erfrischendes Eiswasser ist, dann … dann ist man tendenziell unentspannt, wenn man alle paar Meter den „poke test“ macht, also mit dem Stock gegen das Eis stößt, um zu schauen, ob man durchbrechen kann. Wenn es hält, dann hält es …
#6: Eis singt.
Die Geräusche, die das Eis durch was weiß ich für akustische Besonderheiten hervorbringt, sind faszinierend. Es gurgelt, es gluggst, es brummt. Ein bisschen so, als würde ein gigantischer Wal mit dir sprechen wollen.
#7: Schiffe sind nicht des Skaters Freund.
Nein nein, weil die Schiffe das Eis zerbrechen, wenn sie durchfahren. Was bleibt ist eine Narbe im Eisfeld, ein Hindernis aus offenem Wasser und Eisschollen. Ziemlich blöd, wenn das kurz vor dem geparkten Auto am Ende der Tour ist. Option A: Einen riesigen Umweg zum Hafen machen. Option B, die schwedische Option: Einfach durchschwimmen. Hier kommt dann auch die Notfallausrüstung ins Spiel: Zwei „is pekkar“, Metallspitzen mit Griffen dran, damit man im Falle des Einbruches wieder aus dem Wasser kommt. Ein Rettungsseil, das man verzweifelt im Eiswasser strampelden Freunden zuwerfen kann. Und wasserdicht verpacktes Ersatzgewand zum Umziehen. Kalt bleibt die ganze Aktion trotzdem, aber hey, das ist långfärdsskridskoråkning!
Genug der Aufzählungspunkte, am besten war immer noch: Den ganzen Tag keine Menschenseele gesehen. Nur einen Fuchs. Und einen Hirsch. Und Seeadler. Und eben Schwäne. Für mich jedenfalls war das ein sehr spezieller Tag, ein Tag, der mir das Element Eis in völlig neuem Licht näherbrachte. Und damit nicht nur eine neue Sportart, sondern eine neue Kultur. Es braucht nicht zwingend den Powderhang, um sich im Winter lebendig zu fühlen. Ein zugefrorener Archipel tut’s genauso.
Wer noch nicht genug hat vom Långfärdsskridskoråkning, den nimmt Autor Simon Schöpf im Bergwelten-Magazin noch weiter mit auf das schwarze Eis in Schweden. Diese Geschichte und weitere Reisegeschichten aus Norden und Süden findet ihr in unserem aktuellen Bergwelten-Magazin das ab sofort im Zeitschriftenhandel oder bequem online als Abo oder Einzelheft erhältlich ist.