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Kaukasus von Ost nach West, Teil 6

Ana Zirner im Kaukasus: Zwischen den Welten

• 8. Oktober 2021
7 Min. Lesezeit

Ana Zirner kehrt nach ihrer zweimonatigen Kaukasus-Durchquerung mit dem Zug in die Heimat zurück. Und erkennt dabei, dass das Zuhause fremd erscheinen und das Fremde ein neues Zuhause bieten kann. Auch wenn die letzten Tage in Georgien ziemlich turbulent verliefen.

Ana Zirner Kaukasus
Foto: Ana Zirner
Langsam heißt es Abschied von Georgien nehmen: Blick auf den Mount Ushba (4.710 m)
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Ich sitze im Zug, der durch die vertraute, österreichische Landschaft zu schweben scheint. Es ist die letzte Etappe der viertägigen Heimreise nach zwei Monaten Kaukasus-Durchquerung. Nach Schweben fühlt es sich an, weil alle Verkehrsmittel meiner letzten Wochen mehr oder weniger stark gerüttelt haben. In Georgien waren es die unebenen bis kaum befahrbaren Straßen, auf der Rückreise nun ist es der teils hohe Seegang auf der Überfahrt von Poti nach Odessa, gefolgt von alten Schienen von Odessa nach Lwiw und weiter in Richtung Wien. Dennoch bereue ich keine Minute der erlebnisreichen Heimreise auf dem Land- und Seeweg. Wieder habe ich nicht nur eine klimaschädliche Flugreise gespart, sondern ich bin auch um viele Erlebnisse reicher geworden. Und ich habe mein Verständnis der geografischen und kulturellen Übergänge und Zusammenhänge auf der Strecke zwischen Georgien und Deutschland auf eindrucksvolle Weise vertiefen können. 

In zwei Stunden sollen wir nun also tatsächlich zu Hause sein. Es ist nicht nur so, dass sich das surreal anfühlt, sondern es beginnt sich auch schon langsam dieses gähnende Loch zu öffnen, das ich nur allzu gut von meinen früheren Ankünften her kenne. Es fängt an, als ich mich hier im Speisewagen zu zwei Bier trinkenden, gestriegelten jungen Männern an den Vierertisch setzen will. Es sind die letzten freien Plätze im von schlechter Laune überfüllten Zug von Wien nach Innsbruck. „Da kommen noch zwei“ blaffen sie mich an. „Die steigen gleich ein.“ Ich bin kurz überrascht, dann überfordert, dann werde ich wütend. Ich habe mir gerade etwas zu essen bestellt und würde gerne im Sitzen essen. „Im Speisewagen kann man gar nicht reservieren“ fällt mir glücklicherweise ein, zu erwidern und die zwei grinsen bösartig. Oder so kommt es mir vor. Ich kenne das schon von mir, es beginnt jetzt eine Phase des Heimkehrens, in der ich ganz besonders sensibel auf die kleinen und einfachen Schwächen in unserer Gesellschaft reagiere. Sie erscheinen mir dann wie unter der Lupe gesehen riesig groß und auffällig. Und meist führen sie dazu, dass ich die betreffenden Menschen schließlich bemitleide und mich gleichzeitig für meine Gesellschaft schäme. Auch diese zwei Männer tun mir leid. Wie weit weg sie doch von all dem erscheinen, was ich als echt, wahr und wichtig empfinde. Ich setze mich und mir wird schlecht. Nicht wegen der Schwangerschaft, nein. Es ist der gähnende Schlund, der sich nun unweigerlich öffnet.

Befremdendes Heimkehren

Schnell flüchte ich zurück in die Erinnerungen an die letzte Etappe. An den Wasserfall unterhalb des Ushba-Gletschers, zu dem wir gewandert sind. Ich spüre den Druck in der Luft, von der Wucht des Wassers im freien Fall. Die Luft ist voller zerstäubter, winziger Tropfen, die jeden Atemzug zu einem erfrischenden Erlebnis machen. Die Luft ist schwanger, ja, schwanger mit dieser unbändigen Kraft der Elemente, die sich hier in euphorischer Form begegnen. Wasser und Luft. Ich gehe so nah an das stürzende Nass wie möglich und blicke nach oben. Fast wird mir schwindlig, so weit hinauf reichen die nicht enden wollenden, ineinandergreifenden und sich umeinander werfenden flüssigen Bänder, die in ständiger Veränderung im gleißenden Sonnenlicht auf mich zu stürzen. Unaufhaltsam rasen sie über den schon weichgespülten Felsen zu meinen Füßen und während ich versuche, einem Tropfen auf seiner Bahn zu folgen, spüre ich plötzlich mein eigenes Lächeln, weil es sich so tief und weit in mein Gesicht gräbt, dass meine Wangen fast zu schmerzen beginnen. Ich bin so tief und ganz von Glück erfüllt, dass ich alles um mich herum für einige Momente völlig vergesse.

Noch lange bleibt ein Echo dieses Glücksgefühls in meinem Inneren erhalten. Ich hüte es wie einen kostbaren Schatz und immer wieder vergewissere ich mich in den kommenden Tagen, dass es noch da ist. Ist es. Es sind eben diese Erlebnisse, die wenngleich über die Zeit verblassend, doch die innere Schatzkiste, die in jedem von uns ruht, mit glänzenden Erinnerungen füllen können.

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Schatzkiste voller Erinnerungen

Aber es gibt auch noch eine andere Art der Erinnerungen, eher die klassischen Reiseabenteuer, die auf wohltuende Weise an den Manifesten der eigenen Weltsicht rütteln. Dazu gehören auf dieser Etappe die bizarren Folgen einer Autopanne. Mit meinem gemieteten kleinen Mitsubishi Pajero, einem durchaus fähigen Geländewagen, will ich so nah wie möglich an die Grenze mit Abchasien, also an den so weit im Westen wie möglich gelegenen Punkt im Kaukasus fahren. Es gibt eine alte Passstraße dorthin, die ich ursprünglich zu Fuß hochgehen wollte. Das schaffe ich inzwischen wegen der Schwangerschaft nicht mehr, aber das Ende meiner Route auszulassen kommt für mich trotzdem nicht in Frage. Zumal in unmittelbarer Nähe der wunderschöne und kaum besuchte Okrotskali-See (auf Georgisch „Auge Gottes“) liegt und ein unvergessliches letztes Biwak verspricht. 

Wir machen uns also mit dem Auto auf den Weg, im Kofferraum genug Essen und Wasser für ein paar Tage. Es geht durch tiefe Pfützen und über große Steine, ich manövriere um tiefe Spurrillen herum und über Sandhügel. Die Straße ist in schlechterem Zustand als gedacht. Nach etwa 14 Kilometern, für die wir weit über zwei Stunden brauchen, rumst es bei einer, zugegeben etwas waghalsigen und steilen Fahraktion meinerseits gewaltig. Ein Blick unter den Wagen bestätigt die Sorge: Der Querträger für den Antriebsstrang vorne unter dem Auto ist auf einer Seite ausgerissen und hängt nun gefährlich tief über dem Boden. An weiterfahren ist so nicht zu denken, es würde im Totalschaden enden.
Es folgen Stunden des mühseligen Über-Ecken-Organisierens eines Abschleppwagens ins georgische Nirgendwo. „Frühestens morgen Vormittag“ sei er bei uns, sagt man und bittet um ein Video unserer Umgebung. Mit GPS-Koordinaten und Fotos der Karte kommt man wohl nicht klar.

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Am folgenden späten Nachmittag erreichen uns zwei ausgehungerte und äußerst schlecht gelaunte Abschleppwagenfahrer. Zu Fuß. Und ohne Werkzeug. Dass sie keine Mechaniker sind, ist auch bald klar. Während sie unsere Reserven futtern, erwägen sie unter anderem, einen Sicherheitsgurt aus dem Auto abzuschneiden und werfen beängstigend prüfende Blicke auf die Gurte unserer Rucksäcke. Glücklicherweise fällt Martin da die Reepschnur ein, die wir dabeihaben. Mit der und ein paar großen Steinen verschwinden sie wieder unter dem Wagen. Und tatsächlich gelingt es den beiden, fluchend und sich gegenseitig beschimpfend, in relativ kurzer Zeit, das herabhängende Teil irgendwie im Chassis des Autos hochzubinden. Wir können es kaum fassen, aber sie bellen „lets go, lets go!“ und wir klettern auf die vollgepackte Rückbank. Es ist dunkel, als wir schließlich zu viert in Richtung ihres (wie wir nun erfahren, ebenfalls kaputten) Abschleppwagens rumpeln. Meine Stimmung schwankt aufgrund ihres Fahrstils und meiner aufgewiegelten Hormone zwischen lachen und weinen wollen. Ich lasse dann doch lieber beides sein und halte mich einfach fest. 

Was für ein Ende dieser Kaukasusdurchquerung, denke ich immer wieder. Mal amüsiert, mal frustriert. Irgendwie kommt es mir auf zynische Weise passend vor.

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Zwischen Lachen und Weinen

Während das Auto repariert wird, machen wir noch einen Abstecher nach Etseri, wo uns ein Besuch bei einem gewissen Tony empfohlen wurde. Tony Hanmer, ein Kanadier, lebt seit über zwanzig Jahren in Swanetien, hat früher in Ushguli Englisch unterrichtet und betreibt nun gemeinsam mit seiner georgischen Frau Lali ein Guesthouse in dem kleinen Dorf. Es regnet wieder einmal und ich freue mich über die gemütliche Stube und Tonys Geschichten. Er teilt persönliche und sehr anschauliche Erinnerungen an die politischen Wogen, die unter der Präsidentschaft von Micheil Saakashwili die Region Swanetien bewegt haben. Und er erzählt, wie es heute ist, hier zu leben, was es im tief konservativen Swanetien für ihn bedeuten kann, wenn er beispielsweise ein schwules Pärchen in seinem Gästehaus aufnimmt und dass ihn die ungeschickte lokale Verwaltung in seinem Dorf schier in den Wahnsinn treibt. Er lebt seit Jahren in dem Konflikt, dass er einerseits dazu beitragen will, dass es besser funktioniert, weil es nur dann auch vorwärts gehen kann, beispielsweise mit dem dringend notwendigen Bau der Straße im Dorf, aber andererseits auch nicht der ewig arrogante Ausländer sein will, der alles besser weiß. Ich verstehe seine Situation gut und möchte wirklich nicht mit ihm tauschen. 

Dann denke ich an die Worte von Karina, einer Freundin aus Deutschland, die seit Jahren in Mestia lebt. Sie sagte angesichts eines ähnlichen Themas zu uns „Naja, warum sollten die Georgier nicht einfach Georgier bleiben dürfen?“ Sie meint damit völlig zu Recht, dass unsere Art und Weise, Dinge zu tun oder unser Leben zu strukturieren, ja nun wirklich nicht für die ganze Welt als Maßstab gelten muss. 

Georgische Dotf-Idylle

Ich füge heute, hier im Zug in Österreich und nach dem Erlebnis im Speisewagen innerlich hinzu: Genau, denn es gibt auch andere positive Werte und Qualitäten, die wiederum uns hier völlig fremd zu sein scheinen, die in Georgien hingegen ganz selbstverständlich sind. Dort wäre es undenkbar gewesen, jemandem einen Sitzplatz verwehren zu wollen. Im Gegenteil, man hätte ein fröhliches Kennenlernen daraus gemacht.

Damit endet meine kleine Blogserie über die Kaukaus-Durchquerung. Es war ganz anders als erwartet, aber trotzdem unermesslich wertvoll für mich auf viele verschiedene Weisen. Ich danke euch für das Interesse und eure zahlreichen Zuschriften. Es bedeutet mir immer viel, von LeserInnen zu hören.
Nun geht es für mich wieder mit Vorträgen los und ich freue mich, wenn ich den einen oder die andere von euch dort einmal treffe. Aktuelle Termine findet ihr auf meiner Website. Außerdem teile ich weiterhin Eindrücke von der Tour auf Instagram und Facebook

Und im Herbst 2022 gibt es dann auch das Buch zum Kaukasus, wie immer wird es im Piper Verlag (Malik) erscheinen. 

Ankunft am Schwarzen Meer und Rückfahrt

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