Hermann Hesse: „Unterwegs“
Foto: mauritius images / enricocacciafotografie
Wir geben euch wieder ein Berggedicht mit in die Woche. Diesmal: „Unterwegs“ von Hermann Hesse (1877-1962), der 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur bedacht worden ist.
„Und da ich über Wolken hoch am Berg
In leichten Lüften schritt und stieg,
Tat sich das Reich der Toten vor mir auf:
Von tausend fernen Ahnen ein Gewölk,
Ein Flimmerblitz unzähliger Geister.
Und wunderlich ergriff mich die Erkenntnis,
Daß ich kein Einzelner, kein Fremder bin,
Daß meine Seele, meiner Augen Blick,
Mein Mund und Ohr und meiner Schritte Takt
Nicht neu und nicht mein Eigen sind,
Auch nicht mein Wille, der mir Herr erschien.
Ein Strahl bin ich des Lichts, ein Blatt am Baum
Unzähliger Geschlechter, deren frühe Völker
In Wäldern lebten und auf Wanderung,
Und andrer, die von Krieg zu Krieg getobt,
Und wieder andrer, deren Wohnungen
Von Edelholz und Gold und Schmuck gebaut
In schönen Städten wundersam erglänzten.
Von ihnen her bis auf den stillen Blick,
Den meine Mutter hatte, die mir starb,
Ist alles nur ein unentrinnbar sichrer Weg
Zu mir gewesen, und derselbe Weg
Führt von mir weg in uferlose Zeiten
Zu Menschen, deren ferner Ahn ich bin
Und deren Leben meines in sich schließt.
Und da ich über Wolken hoch am Berg
In leichten Lüften schritt, ward mir mein Leben,
Mein schauend Auge und mein schlagend Herz
Ein köstlich Lehen, das ich dankbar trug,
Doch dessen Wert und Schönheit mir nicht eignet
Und darum nicht vergeht.
Und leise flog
Die kühle Höhenluft mir um die Stirn.“
Hermann Hesse
Hermann Hesse wurde 1877 in Calw (Königreich Württemberg) geboren, 1881 zog er mit seiner Familie für einige Jahre nach Basel in die Schweiz. Bereits in frühen Jahren kämpfte Hesse mit Depressionen, es folgten ein Selbstmordversuch mit nur 14 Jahren und ein stationärer Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt im Remstal.
1898 beendete Hesse seine Buchhändlerlehre in Tübingen und arbeitete in weiterer Folge in einem angesehenen Antiquariat in Basel. 1906 erschien sein Buch „Unterm Rad“, mit dem ihm der literarische Durchbruch gelang. Dieser ermöglichte es ihm nun, sich als freier Schriftsteller am Bodensee niederzulassen. Einem Umzug nach Bern folgte 1919 schließlich ein Umzug ins Tessin. Hesse fand in Montagnola bei Lugano eine neue Heimat – mit freiem Blick auf die italienischen Berge auf der anderen Seite.
1946 wurde Hesse der Nobelpreis für Literatur verliehen, 1961 verstarb der Schriftsteller in Folge einer Leukämie-Erkrankung an einem Schlaganfall.
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