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Hüttenwoche Schweiz, Tag 5

Im ältesten Nationalpark der Alpen

• 31. August 2020
4 Min. Lesezeit
von Martin Foszczynski

Am letzten Tag unserer Hüttenwoche im Engadin besuchen wir den Schweizerischen Nationalpark, wo der Mensch seit hundert Jahren nicht mehr in die Natur eingreift. Ein besonderes Erlebnis im Zeichen geheimnisvoller Krächzer und abgelegener Hütten.

Schweizerischer Nationalpark
Foto: Martin Foszczynski
Wie eine Mischung aus Kaukasus und Dolomiten wirkt der Schweizerische Nationalpark an manchen Orten
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Eines haben wir uns während unserer Hüttenwoche in der Schweiz mehrmals gefragt: Warum hat dieses Land voller einzigartiger Naturreichtümer eigentlich nur einen offiziellen Nationalpark?
Andrea Millhäusler, Guide und Kommunikations-Mitarbeiterin des Schweizerischen Nationalparks, hat dafür eine so kurze wie einleuchtende Erklärung: In der Schweiz – wie könnte es anders sein – wird das Mitspracherecht auch bei der Stiftung von Schutzgebieten hochgehalten. Jede einzelne Gemeinde könne ihr Veto einlegen, und Gemeinden gibt es in der Schweiz noch mehr als Käsesorten.

Nationalpark seit 1914

Dafür aber können die Eidgenossen mit dem Schweizerischen Nationalpark, dessen Territorium sich in der südöstlichen Ecke der Schweiz über vier (bis heute Pachtzins beziehende) Gemeinden erstreckt, den ältesten Nationalpark der Alpen und Mitteleuropas ihr Eigen nennen. Er wurde im Jahr 1914 gegründet – somit 67 Jahre vor dem ältesten Vertreter aus Österreich (Nationalpark Hohe Tauern). Früher dran war nur Nordamerika, wo mit der Etablierung der großen Parks wie dem Yellowstone- oder Yosemite-Nationalpark auch die Wiege der Nationalparkidee liegt.

Der Schweizerische Nationalpark

Was aber, fragt man sich, konnte Anfang des 20. Jahrhunderts in der beschaulichen Schweiz für die Natur so bedrohlich sein, dass man sie auf einer Fläche von heute 170 km² unter Schutz stellen wollte? Auch darauf hat Andrea Millhäusler eine Antwort mit Aha-Effekt parat: Wo heute die Wildnis wuchert, wurde vor hundert Jahren in großem Ausmaß Holz aufgeforstet und geschlägert. Vieles davon transportierte man über den Inn nach Österreich. Neben der Holzwirtschaft bedrohte auch eine andere Entwicklung die ursprünglichen Naturreservate: Berg-Tourismus à la St. Moritz ist kein Phänomen unserer Zeit, sondern hob schon um 1900 ab.

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Natur sein lassen

Heute ist der Schweizerische Nationalpark, der sich über Teile der Täler Engadin sowie Val Müstair erstreckt und jährlich 120.000 Besucher zählt, das größte Wildnisgebiet der Schweiz. Er entspricht der höchsten Schutzklasse gemäß der internationalen Naturschutzunion (IUCN).

Besondere Vegetation

Was Wildnis hier bedeutet, versucht uns Andrea Millhäusler ganz praktisch und mit jedem Schritt unserer Erkundungstour zu erklären. Erstens: Wir Menschen sind hier nur stille Beobachter. Das bedeutet auch, dass die köstliche Walderdbeere am Wegesrand eben dort bleibt, wo sie ist, und idealer Weise nicht in unserem Mund verschwindet.
Zweitens: Wir müssen hier unsere verfestigten Sichtweisen über Bord werfen. Die Schneise, die offensichtlich eine Lawine über einen Hang gezogen hat, ist nur im menschlichen Verständnis ein „Schaden“. „In der Natur aber gibt es keine Schäden, sondern nur Prozesse“, erklärt uns Andrea Millhäusler. Die unzähligen umgeknickten Bäume und im Dickicht liegenden Baumstämme werden bewusst nicht weggeräumt, liefert das Totholz schließlich vielen Tier- und Pflanzen-Arten ihren Lebensraum. Tierleiden wie die Gämsenblindheit, eine infektiöse Augenerkrankung, hätten sich hier ohne menschliches Zutun irgendwann von selbst verflüchtigt.
Nur bei Waldbränden greife man ein, würde ein durch Feuer zerstörtes Gebiet schließlich Jahrzehnte benötigen, um sich wieder zu revitalisieren. Für die Natur ein Klacks, für uns Menschen doch ein ganzes Weilchen. Und wir sollen schließlich auch etwas vom Nationalpark haben, zu dessen Grundfunktion neben dem Schutz der Natur und der Forschung eben auch das Naturerlebnis der Besucher zählt. Auf über hundert Kilometern markierten Wegen innerhalb des Nationalparks können sie diesem frönen – allerdings auch wirklich nur dort.

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Geknickte oder umgestürzte Bäume sieht man im Nationalpark oft

Es lohnt sich jedenfalls einen Feldstecher mitzunehmen. Dann nämlich kann man flinke Gämsen, imposante Hirsche und putzige Murmeltiere ganz nah heranholen. Im Nationalpark existiert aber nicht nur, was man sieht, sondern auch was man hört. Ein paar Minuten Stille eröffnen faszinierende Geräuschkulissen. Immer wieder mischt sich ein weinerliches Krächzen darunter – es gehört dem Tannenhäher. Zumindest dem jungen, „pubertierenden“ – im Erwachsenenalter wird sein Ruf etwas melodiöser.

Doch nicht etwa seiner Gesangskünsten wegen wurde der Vogel zum offiziellen Nationalparks-Emblem erkoren. Der kleine Racker verkörpert vielleicht am besten, wie sich Natur ohne menschliches Zutun organisiert. Er ernährt sich von den Nüssen der Arve (Zirbe) – vielen von uns eher in Form von Schnaps bekannt – und versteckt bis zu 80.000 Stück davon als Winterreserve. Klar, dass man die nicht alle auffuttert und einem der ein oder andere Aufbewahrungsort eventuell entfällt (wir Menschen finden nach ein paar Gläschen Zirbenschnaps oft unser eigenes Bett nicht wieder). Doch so kommt der Tannenhäher nicht nur gut durch den Winter, sondern sorgt auch für die gleichmäßige Verbreitung der Zirbe auf einer Höhenlage von bis zu 2.000 m, neben Lärche, Kiefer und Rottanne (Fichte) ein typischer Vertreter des Baumbestands des Nationalparks.

Spuren, Geräusche, Sichtungen: Die Tierwelt ist im Nationalpark allgegenwärtig
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Krächzende Käuze und stille Hütten

Im Grunde sei der Nationalpark ein einziges großes Experiment, sagt Andrea Millhäusler gegen Ende unserer Tour. Der Versuch, Natur, Natur sein zu lassen und ihre dynamischen Prozesse zu ermöglichen.

Tatsächlich macht die Natur auch an diesem Tag was sie will und übergießt uns ab Mittag mit den ersten Schauern einer Regenfront, die wohl den Sommer aus der Schweiz auskehren wird. Auch das hat seine guten Seiten! Dürfen wir doch im Schluss eines Tals, das teils an die Dolomiten und teils an den Kaukasus erinnert, in einer echten Parkwächter-Hütte Unterschlupf suchen.
In dem schlichten Haus, in dem sonst nur Ranger und Forscher übernachten, um frühmorgens die ins Tal herabsteigenden Tiere zu zählen, genießen wir die letzte Mahlzeit unserer Hüttenwoche in der Schweiz: Clif-Bars und Engadiner Nusstorte, die Andrea für uns eingepackt hat. Wir werden noch lange davon zehren, ebenso wie von den Erinnerungen an all die Naturabenteuer, die wir hier erlebt haben.

Uns überrascht eine etwas verfrühte Regenfront

Infos: Der Schweizerische Nationalpark (Graubünden)

Ausgangspunkt: In Zernez befindet sich das Nationalparkzentrum mit Nationalparkmuseum.

Wandern: Innerhalb des Nationalparks finden sich rund 100 Kilometer markierte Wanderwege, darunter zwei alpine Routen und einige Erlebniswege mit Schautafeln.

Geführte Exkursionen: Jeweils am Dienstag und Donnerstag gibt es öffentliche Exkursionen in gemischten Gruppen (Anmeldung bis zum Vorabend); Kosten: 35 CHF für Erwachsene, 15 CHF für Kinder, 70 CHF für Familien. Auch individuelle Privatführungen sind auf Anfrage möglich.

Übernachten im Nationalpark: Das Campieren ist im Park verboten, dazu zählen auch die Parkplätze – in der Umgebung gibt es aber offizielle Camping- und Stellplätze. Direkt im Park kann man nur auf der im Sommer sehr beliebten Chamanna Cluozza übernachten, die über eine schöne Wanderung über einen Blockgletscher zu erreichen ist.

Öffnungszeiten: Ende Mai bis Ende Oktober täglich von 8.30 Uhr bis 18 Uhr, in der Nebensaison gelten eingeschränkte Öffnungszeiten. Im Winter ist der Nationalpark nicht zugänglich, da die markierten Wege unter Schnee begraben liegen.

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