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Erste 3.000er-Momente und eiskalte Kopfsprünge

5 Min.

28.08.2020

Foto: Robert Maruna

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von Robert Maruna

Nach einer (fast) schnarchfreien Nacht auf der Coaz-Hütte, geht es für die Online Redaktion an Tag 4 der Bergwelten-Hüttenwoche hinauf auf über 3.000 Höhenmeter und hinab zurück ins Val Roseg.

Es ist das übliche Prozedere: Lange bevor sich der Wecker meldet, wird man von Geräuschen aus der Küche geweckt. Weil es immer jemanden gibt, der vor einem aufbricht und weil es immer jemanden gibt, der als Erster oben stehen will. Weil wir aber keine Eile haben – unser Gipfel heute, ist kein ganz großer ­– drehe ich mich einfach zur Seite und döse noch eine Weile vor mich hin, bis jemand das Fenster öffnet. Frische Luft strömt ins Lager, Kaffeegeruch kriecht unter der Türschwelle hindurch und zu mir ins Stockbett empor. Ich wälze mich aus dem Schlafsack.

Vom Küchenfenster sieht man die ersten Sonnenstrahlen über den steilen Firngrat des Piz Roseg (3.937 m) klettern. Eine anspruchsvolle, vielleicht sogar wildere Tour als der Biancograt auf den Piz Bernina (4.049 m) gegenüber. Das Marmeladebrot vor mir sagt, dass ich etwas essen sollte. Gleichwohl es viel zu früh dafür ist. Aber so ist das eben auf Berghütten. Man steht zeitig auf, weil man hohe Berge besteigen will. Für uns geht es auf den 3.197 m hohen Piz dal Lej Alv. Es soll der erste 3.000er für manche aus unserer Gruppe werden. Dementsprechend groß ist die Aufregung, ich trinke noch einen Schluck Kaffee, mein Puls will noch nicht recht auf Touren kommen.

Wir treten aus der Coaz-Hütte und wandern los. Lukas gibt das Tempo vor: „Langsam losgehen und den Rhythmus finden“, höre ich ihn noch vorne sagen, während mein Blick zurück schweift. Der Piz Roseg mit seinem markanten Gipfelgrat zieht mich in seinen Bann, ich stelle mir vor, wie es wohl wäre, jetzt über die Firnflanke aufzusteigen. Im Moment bleibt mir aber nichts anderes übrig als Lukas zu folgen und mit dem schneefreien Gipfel des Piz dal Lej Alv Vorlieb zu nehmen. Und das ist auch lustig, der Weg dorthin gestaltet sich weit interessanter als gedacht. Wir steigen steil über das Geröllfeld an und springen von einem Stein zum anderen. Immer wieder zeigen uns blau-weiße Markierungen den Weg, sonst könnte man sich schnell in dem Gelände verlaufen.

„Wie am Mond“, höre ich meine Chefin vor mir sagen und damit hat sie nicht unrecht. Nicht, dass ich schon mal am Mond gewesen wäre, aber die Vegetation hält sich hier auf 2.800 m in Grenzen. Hin und wieder blitzen ein paar Alpendisteln zwischen den Felsen hervor, sonst sieht man weit und breit nichts anderes als Steine. Und die Steine haben mit unserem Bergführer eins gemein: Sie sind wortkarg. Aber das Spiel mit ihnen eben nicht unlustig, genauso wie die kurzen Gespräche mit Lukas. Der Schweizer Humor ist nämlich alles andere als flach. Er ist wohl durchdacht und so kann es schon mal passieren, dass man erst ein paar Schritte später die Pointe versteht.

Und dann sind es bloß noch ein paar Schritte zum Gipfel. Laut Vanessas Schrittmesser liegen mehrere hundert hinter uns und rund 700 Hm haben wir von der Coazhütte herauf bewältigt. Eine kleine Schlüsselstelle steht aber noch vor uns: Jetzt heißt es Hände aus den Hosentaschen nehmen, ein paar Meter abklettern, aus dem kleinen Kamin herausspreizen und schon stehen wir auf dem Gipfel. Ein unspektakulärer wohlgemerkt. Aber so ist das eben oft auf den Schweizer Bergen, Gipfelkreuze werden nur dort aufgestellt, wo es wirklich notwendig ist. Sonst ist der Gipfel einfach die höchste Erhebung auf einem Grat.

„In einem Abstand von mindestens 60 Meter zur nächsten Erhebung“, klärt uns Lukas auf. Sonst wäre es eben kein Gipfel, sondern einfach eine Erhöhung im Schottergelände. Wir stehen auf jedem Fall am höchsten Punkt unseres Schutthaufens aus Granit und genießen das Panorama. Der Roseg-Gletscher, der Gipfel des Piz Bernina, Piz Glüschaint und Piz Sella auf der einen Seite, auf der anderen der Cima de Barna und in weiter Ferne erkennen wir sogar das 4.193 m hohe Aletschhorn. Ein Ausblick, der sich einem nicht jeden Tag eröffnet, also verweilen wir ein paar Minuten, verspeisen unsere Müsliriegel und lassen die Gedanken schweifen.

Ein lautes Krachen reißt uns aus den Tagträumen. Zwei Jets der Schweizer Luftwaffe fliegen über unsere Köpfe hinweg und hinterlassen dünne Kondensstreifen am Himmel. Es wird Zeit die Rucksäcke zu packen und mit dem Abstieg zu beginnen. Und jeder Bergsteiger, der jemals in brüchigem Gelände unterwegs war, weiß wie herausfordernd solch ein Rückweg sein kann. Mal rutscht man aus, dann findet man wieder Halt und hin und wieder muss man auch die Hände zu Hilfe nehmen. Das kostet Kraft und kann weit länger dauern als gedacht, aber wir machen zügig Meter nach unten und stehen keine halbe Stunde später wieder am Fuße des Gipfelgrats.

Jetzt heißt es einfach weiter marschieren und weiter konzentrieren. Die Gespräche verstummen und wir wandern geschlossen voran, immer den Blick auf die steinigen Hindernisse gerichtet. Im Grunde ist es fast wie beim guten alten Konsolen-Klassiker „Super Mario Bros.“: Man springt auf einen großen Stein, dann hinab zu einem kleineren, steigt schnell über den Spalt zum nächsten Brocken und springt wieder weiter. Immer in der Hoffnung und im Glauben, dass keiner der Gesteinshaufen umkippt. Das klingt anstrengend, ist aber unterhaltsamer als bloßes Wandern auf einem Trampelpfad. Und ehe man es sich versieht, ist die Coaz-Hütte wieder in Griffweite und der verdiente Kaffee wird auch schon serviert. Wir legen eine kurze Pause auf der Sonnenterrasse ein und bündeln unsere Kräfte für den finalen Abstieg hinab ins Val Roseg.

Der Wetterbericht hat sich glücklicherweise getäuscht: Noch immer herrscht ungetrübter Sonnenschein, kaum eine Wolke ist am Himmel zu sehen. Wir schultern unsere Rucksäcke und setzen uns wieder in Bewegung. Nach knapp 100 Höhenmetern Abstieg wird die Schotterlandschaft wieder zur grünen Umgebung: saftige Gräser, lila Blumen und jede Menge Murmeltier-Löcher. Immer wieder hören wir die frechen Nager über unseren Köpfen pfeifen, versuchen einen Blick auf sie zu erhaschen, doch vergeblich. Also steigen wir weiter über den schmalen Pfad ab und sehnen uns bereits nach einem Sprung ins kalte Gletscherwasser des Lej da Vadret.

Nach einer knappen Stunde Abstieg reißen wir uns die Kleidung vom Leib und springen ohne großes Überlegen in die türkisblauen Fluten. Keine zehn Sekunden später stehen wir wieder auf trockenem Boden und wärmen unsere Körper im Sonnenlicht. Die Wassertemperatur beträgt mit Sicherheit unter 10 Grad, für ausgiebige Schwimmrunden ist es wohl doch zu kalt, einen zweiten Sprung ins Wasser lassen wir uns aber trotzdem nicht nehmen. Lukas beobachtet unser Treiben mit gebürtigem Sicherheitsabstand, Wasser ist wohl nicht sein Element, erst recht nicht, wenn es eiskalt ist.

Wir packen ein letztes Mal unsere Sachen zusammen und lassen das Seeufer hinter uns. Bloß ein paar Kilometer trennen uns nun noch von unserem heißgeliebten Restaurant Hotel Roseg Gletscher am anderen Ende des Tales. „Vielleicht noch eine halbe Stunde“, ruft uns Lukas zum Abschied zu. Er hat sein Mountainbike im Dickicht der Latschen geparkt und radelt von hier aus nach Hause. Wir winken ihm sehnsüchtig nach, auch wir würden die letzten Meter lieber im Sattel als zu Fuß zurücklegen. Aber das gehört zum Bergsteigen eben auch dazu: Dass man manchmal länger läuft als gedacht. Aber jetzt lagern wir erst Mal die Beine auf der Hotel-Terrasse hoch, bestellen ein Panaché (süßen Radler) und genießen das Panorama auf den Gletscher. 


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