Im nassen Keller des Ötscher
„Wir sind hier. Jetzt gehen wir auch“, ist die einzig richtige Antwort auf den Regen. Wie es ist, wenn bei einer Wanderung durch die Wasserwelt der Ötschergräben das kühle Nass auch von oben kommt, hat sich Alois Pumhösel angesehen.
Schwere Wolken hängen über dem Ötscher. Die Zacken des Rauhen Kamms sind nur vereinzelt zu erahnen. Wie grau-blaue Schatten türmen sich die umliegenden Berge und Hügel übereinander. Es ist das letzte Mal für die nächsten fünf Stunden, dass wir einen so weiten Ausblick genießen werden. Wir marschieren den Lassingfallweg hinunter in die Ötschergräben. Von dem namensgebenden Berg wird später nichts mehr zu sehen sein. Nur der Himmel zwischen den Felsmauern, die zu beiden Seiten hochragen.
Gleich nachdem wir in Wienerbruck aus dem Auto ausgestiegen sind, hat es zu regnen begonnen. Viele der Wanderer, die es an diesem Samstagnachmittag hierher gezogen hat, geben doch der Gastronomie in der neu errichteten Ötscherbasis den Vorzug.
„Wir sind hier. Jetzt gehen wir auch“, ergibt die interne Debatte. Wir vertrauen darauf, dass die berühmteste Schlucht Ostösterreichs auch bei Regen ihre Reize zeigt. Das Ziel unserer dreiköpfigen Gruppe ist das tief in den Ötschergräben versteckte Schutzhaus Vorderötscher, das wie die Ötscherbasis anlässlich der Landesausstellung ausgebaut wurde.
Von Kaskaden, Rinnsälen und Schaumkronen
Die Felsdurchgänge des Lassingfallwegs, zwischen denen man die letzten Blicke auf den Ötscher werfen kann, dienen uns als Unterstand, um Regenhose und -jacke überzustreifen. Wir müssen schnell sein, denn wir sind erst am Nachmittag aufgebrochen. Vor Einbruch der Dunkelheit wollen wir von dieser Sechs-Stunden-Wanderung wieder zurück sein.
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Der erste Vorbote der Wasserwelt, die uns erwartet, ist der Lassingfall, der seine Gischt in die Schlucht hinabwirft. Über uns winden sich die Schienen der Mariazellerbahn durch die Berge. Seit über 100 Jahren versorgt das Kraftwerk Wienerbruck die Bahn mit Strom. Im Rahmen der Landesausstellung „Ötscher:Reich“ kann man das Schaukraftwerk besuchen. Nachdem wir den steilen Abstieg hinter uns gebracht haben, marschieren wir schnellen Schritts „bachaufwärts“ tiefer in die Schlucht hinein.
Sie enttäuscht uns auch bei Regen nicht. Die Fälle, Kaskaden, Rinnsale und schäumenden Kronen, die Becken und ausgespülten Höhlen des Ötschergrabens wirken in der grauen Stimmung noch eindrücklicher. Die vielen Brücken, die engen Steige, die einmal links, einmal rechts, nah am Wasser oder weit oben darüber hinweg durch den Canyon führen, behaupten ihren Reiz bei jeder Witterung. Nur das berühmte grün-türkise Leuchten des Wassers bleibt uns vorenthalten. Und bei den schmalen Holzstegen, die jetzt nass und glitschig sind, muss man besser aufpassen. Immerhin wurden für die Besucher der NÖ Landesausstellung auch die Sicherungsseile entlang der engsten Stellen erneuert.
Ich war schon oft hier. In meiner Erinnerung schien immer die Sonne, als ich früher mit meiner großen Familie die alljährliche Wanderung durch Tormäuer und die Ötschergräben nach Mariazell oder – je nach religiösem Interesse – zum Erlaufsee beging. Meine Nichten und Neffen pflegten an einer engen, tiefen Stelle des Ötscherbachs in das – bei jeder Hitze – kühle Nass zu springen. Wenige Gehminuten später machte man beim Ötscherhias Rast, dieser großartig in der Klamm eingeklemmten Bewirtungsstelle, bevor wir hier die Schlucht Richtung Erlaufstausee verließen.
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Heute zweigen wir nicht beim Ötscherhias ab. Es geht noch tiefer in die Schlucht hinein, vorbei an der abenteuerlich anmutenden Felsspitze, die in die Schlucht ragt und jedem Karl-May-Film als Schauplatz zur Ehre gereichen würde. Bald kommt beim „Jägerherz“ die Abzweigung zum hinteren Ötscheranstieg, die über das Geldloch und den Rauhen Kamm führt – eine lange, mühsame Tour. Ein anderes Mal.
Bald führt linkerhand ein Weg aus der Schlucht hinaus. Keine halbe Stunde dauert es, bis wir beim Schutzhaus Vorderötscher heroben sind. Die angebauten, in hellem Holz gehaltenen Lokalräumlichkeiten sind für einen verregneten Samstagabend gut besucht. Alles, inklusive Bild des Landeshauptmanns an der Wand, sieht noch recht neu aus. Es wird noch einige Jahre des Kommens und Gehens von Wanderern benötigen, bis diese abgelegene Einkehr ihre aus der Zeit gefallene Stimmung zurückgewinnt.
Wir drei schlingen schnell Kaffee und Kuchen hinunter, bevor es auf dem selben Weg wieder zurückgeht. Andere Wanderer sind keine mehr unterwegs. Eine Gams, die sich trotz unserer Anwesenheit bis ans Wasser herunterwagt, ist unsere einzige Begegnung. Als wir schließlich aus den Gräben herausmarschieren, sehen wir gerade noch das letzte Tageslicht in den Wolkenbergen über dem Ötscher versickern. Wir kommen wieder, auch im Regen.