Sardinien: Gipfel im Meer
Die Wildnis beginnt gleich neben dem Wegesrand: Plant man die perfekte Insel für Abenteurer auf dem Reißbrett, ist Sardinien eine geniale Vorlage.
Klaus Haselböck für das Bergwelten-Magazin Oktober/November 2018
Aus, nichts geht mehr. Wir sind gefangen in der Macchia, dem zähen, dornendurchsetzten Gestrüpp, das hier in Sardinien ganze Landstriche überzieht. Warum haben wir auch den gemütlichen Wanderweg, der von Santa Maria Navarrese entlang der Küste nach Norden führt, verlassen? Wir wollten diese Grotte finden, die wahrscheinlich nur unsere Handy-App kennt. Und wohin man auf den schmalen Steigen, die immer wieder abzweigen, gelangt, wissen wohl nur die Hirten.
Für uns enden sie genau dort, wo wir jetzt sind: im Nirgendwo. Bei jedem Versuch, in dem Gewirr aus Ranken und Dornen weiterzukommen, scheint es sich wie eine mystische Fessel nur enger um uns zu legen. Wenigstens hält ein herrlicher Duft von Thymian, Salbei und Wacholder unsere Nase bei Laune, während unten das Meer rauscht und hoch oben Wolken über den Himmel jagen.
Unsere einzige Chance liegt in einem geordneten Rückzug. Mit langsamen Bewegungen arbeiten wir uns zurück zum Ausgangspunkt und sehen ein: Die Wildnis beginnt in Sardinien unmittelbar neben dem Wegesrand. Plant man die perfekte Insel für Abenteurer auf dem Reißbrett, so ist Sardinien eine geniale Vorlage dafür: bizarre Steilküsten mit jeder Menge Routen für Kletterer, kilometerlange Strände zum Tauchen und Surfen, außerdem ein weites, einsames Hinterland für Touren zu Fuß oder mit dem Mountainbike. Dazu das herrlich mediterrane Klima und eine fein instrumentierte Küche mit bewährtem italienischen Generalbass.
Die Gefahr kam vom Meer
Apropos Italien: Sardinien liegt 200 Kilometer westlich von Rom, und zu Italien gehört die Insel heute auch politisch. Wobei die Distanz zum Festland für die Sarden eher trennend als verbindend wirkt: Für die Inselbewohner, die traditionell immer Hirten und nie Fischer waren, kam die Gefahr stets vom Meer aus – schon früh durch die Römer, die einige Mühe hatten, die widerspenstigen Stämme zu unterwerfen, später in Form von arabischen Piraten und brandschatzenden Wikingern.
Zu Beginn der Neuzeit errichteten die Spanier ein 400 Jahre währendes grausames Kolonialregime, ehe Sardinien im 19. Jahrhundert Italien zugeschlagen wurde, heute mit Autonomiestatus. Wie sehr die wechselvolle Geschichte spürbar ist, bestätigt uns Lauretta aus Mailand, der wir bei einer Wanderung an der Ostküste begegnen: „Wenn wir hierherkommen, dann fahren wir nach Sardinien und nicht nach Italien.“
Beliebt auf Bergwelten
Für die Sarden ist Italien eben auch nicht das „Mutterland“, sondern schlicht Europa. Ein Symbol für die Skepsis der Einheimischen gegenüber der Obrigkeit ist das „Banditendorf“ Orgosolo: Der Ort liegt in der gebirgigen Region Barbagia, traditionell das Land der bösen Buben, Viehdiebe und Entführer. Wandmalereien, die seit 1975 an den Gebäuden im Zentrum zu sehen sind, zeigen all das, was die Sarden argwöhnisch beäugen – Nato-Flugplätze, Diktatoren oder das Wettrüsten der Supermächte.
Längst ist das einst verruchte Dorf ein Fixpunkt jeder Sardinien-Reise, die Malereien werden eifrig fotografiert, in den kleinen Imbissbuden herrscht gute Laune, und fürchten muss sich hier niemand. Schon gar nicht ein Tourist. Als solcher muss man eher mit der Freiheit umgehen können: Hat man nämlich die Luxusresorts an der Küste hinter sich gelassen, dann wird es auf der Insel schnell wohltuend einsam.
Etwa wenn man im Frühjahr oder im Herbst bei moderaten Temperaturen im Supramonte-Gebirge unterwegs ist: In der Nähe des hübschen Bergortes Oliena schwingt sich der wuchtige Gebirgsstock bis auf 1.400 Meter Höhe empor. Das mag von den Zahlen her nicht beeindrucken, doch der weithin sichtbare Felsklotz bietet alles, was man sich auch in den Alpen von einem Gebirgszug erhofft: tiefe Schluchten, lange Grate, einsame Grotten und wenig begangene Pfade.
Auch beliebt
Den Lancia parken wir in einem Wäldchen von Steineichen. Diese sorgen auf den ersten Schritten für herrlichen Schatten und sind die alpinen Verwandten der Korkeichen, eines Baums, der auf der Insel eine ganze Industrie nährt. Dem steilen Weg folgen wir bis auf das verkarstete Plateau. Dass wir unterwegs immer wieder freilaufenden Ziegen, weiter unten auch Schweinen begegnen, ist auf der Insel der Hirten keine Überraschung.
Die Perspektive hingegen schon: Von oben wirkt alles sehr nahe – wir wähnen uns fast schon auf dem Gipfel, obwohl es dorthin noch eine gute Stunde Gehzeit über wegloses Gelände ist. Gleichzeitig scheint das Blau des Meeres so greifbar, dass wir doch unmöglich in den Bergen sein können. In der kühlen Brise, die uns übers Gesicht streicht, glauben wir gar das Salz herausschmecken zu können. Konzentration ist in dieser Traumlandschaft trotzdem gefragt, denn Wegweiser sind auf der großzügigen Runde, die wir durch das Gebirge drehen, rar, und wer beim Weg über die großen Platten abrutscht, fällt genauso hart wie sonst wo.
Vom Monte Corrasi, dem höchsten Punkt des Massivs, überlegen wir, einen direkten Weg hinunter zum Parkplatz zu nehmen. Der würde aber über Felsbänder und Schotterrinnen inmitten von abweisenden Wänden führen. Schon nach den ersten Metern, die wir uns wie auf rohen Eiern hinuntergearbeitet haben, ist klar: Das muss nicht sein, wir sind schließlich zum Genießen in Sardinien.
Das wilde Blau
Wer es auf der Mittelmeerinsel radikal will, wird mit dem Selvaggio Blu, dem „Wilden Blau“, bestens bedient: Erfunden haben den Weg, der gerne als das extremste Trekking Europas gehandelt wird, zwei italienische Bergführer im Jahr 1975. Entlang der Ostküste der Insel, von Maria Navarrese bis nach Cala Gonone, erkundeten sie alte Hirtenpfade und fanden dabei eine ebenso fordernde wie spektakuläre Linie, der man gehend, kletternd und abseilend folgt.
Eine solide Kondition, Geländegängigkeit und bergsteigerisches Können sind dafür die Voraussetzungen. Anspruchsvoll ist zudem die Orientierung, denn für den Selvaggio Blu existieren zwar GPS-Tracks im Internet, aber unterwegs sucht man Markierungen vergebens. Drahtseile oder Leitern, wie man sie bei heiklen Passagen aus den Alpen kennt, gibt es sowieso nicht.
Die noch größere Herausforderung liegt in der Logistik: Der Bedarf an Wasser, den man für die sechs Tage lange Tour braucht, würde die Rucksäcke in dem ohnehin anspruchsvollen Gelände viel zu schwer machen. Dieses vorher zu deponieren ist auch keine Lösung: „Wenn Einheimische die Depots finden, dann leeren sie das Wasser aus“, so Michele Barbiero. Denn der Selvaggio Blu soll in der Hand einiger weniger kundiger Bergführer bleiben, die wie Michele hier mit ihren zahlenden Gästen unterwegs sind. Der aus Cortina in der Region Venetien stammende Guide ist den Traumpfad schon sechsundzwanzig Mal gegangen.
In den letzten zwei Jahren hat er durch Gespräche mit Einheimischen sowie eigene Erkundungen eine neue Variante mit noch mehr spektakulären Momenten entwickelt und schwärmt vom vertikalen Wandern hoch über türkisblauem Wasser, von scheinbar geschlossenen, völlig abweisenden Wänden, die dann doch einen Durchschlupf bieten, vom Nächtigen in einsamen Buchten und dem einfachen Leben bei Hirten, die ihren Gästen das servieren, was sie selbst produzieren.
Das wird es heute für uns nicht sein: Gar nicht wild oder abenteuerlich, sondern kulinarisch sehr gepflegt erleben wir den Abend im „Masiloghi“ in Oliena: Als Vorspeise kommt ein Artischockencarpaccio mit Muscheln auf den Tisch, danach arbeiten wir uns über Fregola con ragù (also sardische Pasta) vor bis zum Porcheddu, dem gegrillten Spanferkel. Aber erst als wir als Dolce noch Sebadas, üppig mit Honig übergossene Teigtaschen, bestellen, ist Alessandra, die Kellnerin, mit uns zufrieden: „Jetzt“, sagt sie mit einem tiefen Seufzer, „jetzt habt ihr Sardinien.“