Korsika – Wilde Wanderinsel im Mittelmeer
Meer, Sonne, fünfzig Gipfel und fast noch mehr Wanderwege, als die Altstadt von Calvi verwinkelte Gassen hat: Es gibt keinen besseren Platz als diese Mittelmeerinsel, um bei angenehmen Temperaturen wandern zu gehen. Natürlich nur, wenn man sich beim Bergwandern nicht verläuft.
Text: Markus Huber
Ist das der Weg? Lena hat keine Ahnung. Wir sind hoch in den Bergen Korsikas, so viel steht fest. Hinter uns liegt das Meer und das winzige Bergdorf Mont’Estremu, tief unter uns der Fango, dieser eiskalte Gebirgsbach, der den Nordwesten Korsikas in Richtung Mittelmeer entwässert, und irgendwo über uns die Bocca di Capronale, ein Sattel, der die Paglia Orba, angeblich so etwas wie das „Matterhorn Korsikas“, von den westlichen Ausläufern des korsischen Hochgebirges trennt.
Über diesen Sattel müssen wir heute noch, denn gleich dahinter liegt das Refugium von Pierre, die Schutzhütte, in der wir heute Nacht schlafen wollen. Ganz besonders toll soll dieses Refugium sein, hatte Lena gesagt, weil man dort einen spektakulären Blick auf alle umliegenden 2.000er und das Valdu-Niellu-Tal hat, vor allem bei Sonnenuntergang.
Aber jetzt ist es 18:30 Uhr, in nicht einmal drei Stunden wird es stockfinster sein, und wir haben keine Ahnung, wo es weitergeht. Lena steht mitten in einem dieser hohen Steineichen-Pinien-Wälder, die Lichtungen so hoch und hell wie Kathedralen bilden, und ist ratlos. Streng genommen sind wir nicht am ganz korrekten Weg zum Pass – von dem sind wir nämlich vor einer Viertelstunde abgebogen, ohne uns groß Gedanken darüber zu machen. Hatte es nicht geheißen, dass das alle Korsen so machen? Cedric hatte gesagt, dass der Weg zur Bocca einfach in Serpentinen den Berg hinauf ginge und eigentlich nur Touristen volle vier Stunden für den Anstieg brauchen, echte Korsen aber nicht einmal die Hälfte, weil sie klarerweise die langgezogenen Serpentinen abschneiden.
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Keine Fußspuren, nichts deutet darauf hin, dass hier schon jemals etwas anderes unterwegs war als Wildschweine oder vielleicht eine ausgerissene Kuh. Ist das wirklich eine Abkürzung? Oder der Beginn eines ziemlich dummen Fehlers? Lena murmelt in ihrem deutsch gefärbten Französisch nur: „C’est dangereux.“ Und Cedric ist nicht da.
Lena und Cedric
24 Stunden ist es her, dass wir Lena kennengelernt haben. Sie kommt aus Dortmund, hat Kulturwirtschaft und Französisch studiert, fürs Theater gearbeitet und für den Kultursender arte. Vor drei Jahren allerdings hat sie beschlossen: nein. Warum Mitteleuropa, wenn es auch ein Mittelmeer gibt? Seitdem ist sie Wanderführer auf Korsika. „Wenn man gern in den Bergen ist, dann ist diese Insel perfekt.“
„Euer Mann ist Cedric“, hatte sie uns am Vortag gesagt, als wir sie nach einem sportlichen Bergführer mit Kletterkompetenz gefragt haben. Cedric: 40, klein und drahtig, Ultramarathonläufer, mit mehr Tattoos als englischen Vokabeln ausgestattet, trotzdem gesprächiger als eine korsische Großstadt. Er war sofort gekommen, hatte uns von einem Kletterspot zum nächsten dirigiert, davon gibt es auf Korsika nicht wenige.
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Allein in der näheren Umgebung von Calvi kann man innerhalb weniger Kilometer sechs bis sieben Spots ansteuern, in Bonifacio hochalpin klettern oder etwa in L’Île-Rousse, an Felsen, die direkt aus dem Meer hochragen. Die Touren sind möglicherweise nicht die schwierigsten, wobei die Spots direkt am Wasser vor allem am Nachmittag, wenn die direkte Sonneneinstrahlung verschwunden ist, so salznass und feucht sind, dass sie durchaus tricky werden können.
Das Aufregendste am Klettern auf Korsika sind jedoch zweifellos die Umgebung und der Ausblick auf Berge und Meer. Und zwar meistens beides auf einmal. Jetzt stehen wir aber im Wald irgendwo unter der Paglia Orba, ohne Ausblick, und haben keine Ahnung, wo es langgeht.
Korsika: die nördlichste Insel des Mittelmeerraums, 180 Kilometer lang und in der größten Ausbreitung 83 Kilometer breit. Korsika gehört zu Frankreich und ist flächenmäßig die viertgrößte Insel im Mittelmeer und zu 86 Prozent von Bergen bedeckt. Auf engstem Raum gibt es fünfzig Gipfel über 2.000 Meter, und der höchste, der 2.706 Meter hohe Monte Cinto, ist gerade einmal 20 Kilometer vom Meer entfernt.
Heißt: Es geht knackig rauf und runter. Korsika, das sind wilde, zerklüftete Felsformationen, und wenn man nicht gerade die Korsika-Rallye fährt, dann sind es lange Wege auf kurzen Distanzen. Die Insel bietet sich also hervorragend für einen Wanderurlaub an und lässt sich am Fernwanderweg GR20 sogar durchqueren. Oder man entscheidet sich für eine gemütliche Küstenwanderung.
Ein Bergvolk auf der Insel
Jahrhundertelang hatten sich die Korsen vom Meer abgewandt und in Richtung Berge orientiert, selbst in den Küstenregionen hatten sie ihre Dörfer aus Angst vor Überfällen vom Meer aus so hoch es ging in die Berge gebaut, meistens bis knapp an die Schneefallgrenze hinauf, die auf Korsika im Durchschnitt bei etwa 400 Meter Seehöhe liegt. Verbunden waren diese Dörfer durch ein engmaschiges Netz aus Hirtenwegen, gerade breit genug für die Tragesel. Diese Wege, die schnurstracks durch die wild vor sich hin wuchernde Macchia führen, gehen bergauf und bergab, wie auch immer es die Topografie zulässt. Vor allem in der Balagne, wie die Region rund um Calvi genannt wird, sind die meisten dieser Wege nach wie vor erhalten – die ideale Basis für viele Wanderrouten in der Gegend.
Natürlich nur, wenn man sich in ihnen nicht verläuft. Nachdem wir eine gute halbe Stunde ohne Plan, aber mit dem Gefühl, demnächst zu Korsen ehrenhalber ernannt zu werden, den Berg hinaufgerannt sind, setzt sich Lena durch: Wir drehen um und stapfen 150 Höhenmeter zurück auf den Serpentinenweg.
Seit wir wieder zum Weg zurückgekehrt sind, hat er übrigens keine einzige Serpentine mehr geschlagen. Irgendwann beginnt sich der Weg dann doch den Berg hinaufzuschlängeln, und als wir endlich die Bocca auf 1.300 Metern überqueren, geht die Sonne über dem Mittelmeer in unserem Rücken schon fast unter. Allerdings: Eine Hütte ist hier nicht zu sehen.
Grüne, kühle Insel – ein Wandermekka
Seit knapp 50 Jahren ist Korsika eines der beliebtesten Ziele für europäische Wanderer – aus gutem Grund. Wegen des maritimen Klimas beginnt die Saison bereits im März und geht bis in den November. Korsika ist aber nicht nur eine unglaublich grüne Insel, im Vergleich zu anderen Mittelmeerinseln wird es vor allem im Hochgebirge auch im Sommer nicht zu heiß.
In den 1970er-Jahren wurden weite Teile der korsischen Bergwelt in einen Nationalpark verwandelt und einer der vielleicht spektakulärsten alpinen Weitwanderwege Europas geschaffen: der „GR20“, der in 15 Tagesetappen einmal über die Insel führt. Es sind einige Kletterpassagen dabei, selten fällt die Tour dabei unter 1.500 Höhenmeter, außerdem gibt es entlang des Wegs Berghütten, sogenannte Bergerien, in denen man entweder in Lagern nächtigen oder zelten kann.
Der Weg ist perfekt ausgeschildert, im August und September wäre das aber eigentlich gar nicht notwendig, sagen die Korsen: Dann würden nämlich so viele Touristen unterwegs sein, dass man sich am GR20 wie in einer langen Karawane südwärts bewegt.
Einheimische und Eingeweihte weichen deswegen auf einen der anderen Weitwanderwege aus, die in den vergangenen Jahren auf Korsika eröffnet wurden. Auf den „Mare e Monti“ zum Beispiel, der sich ebenfalls im Nordwesten der Insel 110 Kilometer erst in Richtung Landesinneres und anschließend zurück zum Meer schlängelt. 6.000 Höhenmeter und zehn Tage werden dafür veranschlagt.
Oder, etwas kürzer, der „Sentier de la Transhumance“, auf dem wir uns gerade befinden und der den Weg von Mont’ Estremu zu Pierres Refugium als Tagesetappe bezeichnet. Es war also zugegeben ziemlich selbstbewusst, noch ausgiebig in den Gumpen des Fango gebadet zu haben, bevor wir gegen 16 Uhr im Tal aufgebrochen sind. Es gibt aber auch viele Bergtouren und schöne Wanderungen auf die höchsten Gipfel, die man an einem Tag machen kann.
Pierres Hütte
Als wir endlich die Hütte entdecken, ist es kurz vor 21 Uhr. Die Sonne ist untergegangen, und von einer Dämmerung ist auch nicht mehr viel zu sehen, das gilt übrigens genauso für die Hütte.
Mit den großen und mondänen Schutzhütten der Ostalpen hat dieses Steinhaus nichts gemein, dort sind meistens schon die Gerätekammerl größer. Tatsächlich waren diese Refugien, die überall in den korsischen Bergen stehen, ursprünglich nur Unterschlupf für Hirten auf Durchmarsch.
Hüttenwirt Pierre hingegen hat vor, länger zu bleiben. Pierre ist Mitte 30, Korse, ein Freund von Cedric und ähnlich umtriebig wie er. Keine Sekunde kann er ruhig stehen, immer ist er in Bewegung, deckt den Tisch, kümmert sich um das Abendessen.
Im Frühjahr 2014 hat er die Hütte, die offiziell „Refuge de Puscaghja“ heißt, übernommen. Er will Natur. Und Ruhe. Deswegen kümmert er sich nun von Mai bis Mitte Oktober um die Hütte, um das kleine Gemüse- und Kräuterbeet, das er dahinter angelegt hat und mit dem er tatsächlich den größten Teil des Bedarfs der Hütte decken kann.
Abends kocht er für die Wanderer. Am liebsten Linsen mit Speck. „Apropos“, sagt Pierre, „wo wart ihr so lang? Cedric hat angerufen und sich nach euch erkundigt. Ihr werdet euch doch nicht verlaufen haben?“
Witzig, diese Korsen.
Infos und Adressen: Korsika
Beste Reisezeit:
Dank des maritimen Klimas beginnt die Wandersaison bereits im März und geht bis in den November.
Anreise:
Der Flughafen Calvi Saint-Catherine liegt im Nordwesten der Insel, eignet sich somit bestens, wenn man eine der mehrtägigen Korsika-Touren gehen möchte. Hier landen Chartermaschinen aus Österreich und Deutschland, außerdem gibt es Linienflüge zum Beispiel über Nizza. Weitere internationale Flughäfen sind in Bastia sowie in der Hauptstadt Ajaccio.
Wandern:
Hier gibt es ausgewählte Wandertouren auf Korsika.