INTERVIEW
„Wandern sollte eine Heldenreise sein“
Erst ruft das Abenteuer, dann gilt es, eine Bewährungsprobe zu bestehen und am Ende wird gefeiert – wer eine Wanderung nach diesem Prinzip anlegt, dem ist die Motivation von Grundschulkindern (beinah) sicher, sagt Psychologin Birgit Langebartels.
Interview: Andreas Lesti, Illustration: Jochen Schievink
Bergwelten: „Wandern ist doof“, sagen die meisten Kinder – wie schaffen es Erwachsene, sie trotzdem dazu zu motivieren?
Birgit Langebartels: Sie sollten ihnen Wandern als Heldenreise präsentieren. Psychologisch kann man eine Wanderung so sehen. Am Anfang der Heldenreise ist der Ruf des Abenteuers. Das hat einen Zukunftsbezug und ist eine Herausforderung. Dieser starke Drang rauszugehen. Dann kommt der Gegenwartsbezug, mit einem starken Gefühl vom Hier und Jetzt, man spürt den Regen, die Füße tun weh, man hat Hunger und kommt außer Puste. Das ist wie eine Bewährungsprobe.
Der Held muss schließlich auch den Drachen besiegen.
Genau. Er muss diese Bewährungsproben bestehen. Die Anstrengung überwinden, ein Stück klettern, sich trauen, an einem Abgrund entlangzugehen. Aber wenn er das überwunden hat, ist er gestärkt.
Klingt anstrengend.
Deswegen sollte man eine Wanderung in kleinere, verdaulichere Häppchen aufteilen. Pausen einlegen, eine Brotzeit machen – das sind Etappenziele, die ganz wichtig sind für eine Wanderung, vor allem für Kinder.
Und zurück in der Heimat, wird der Held gefeiert.
Er geht gestärkt aus dieser Heldenreise hervor. Das hat dann einen Vergangenheitsbezug, indem man verwandelt zurückblicken kann auf die Erlebnisse auf der Wanderung. Im Moment erleben wir aufgrund der Pandemie bei Kindern sehr wenig Selbstwirksamkeit, das heißt, sie fühlen sich immer noch sehr ohnmächtig der ganzen Situation gegenüber. Wandern ist prädestiniert dafür, das zu ändern: Da haben die Kinder eine Einwirkung, das Gefühl, sie schaffen etwas, überstehen etwas, können etwas meistern. Wenn sie dann am Ende einer Wanderung auf die zurückgelegte Strecke blicken, bekommen sie ein ganz starkes Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Auf Heldenreise: Die geplante Tour wird in die Tat umgesetzt. Foto: Adobe Stock / CandyRetriever
„Hinterher ist immer besser als währenddessen“, hat mein Schwiegervater immer gesagt.
Ja. Das Erlebte wirkt nach, und wenn die Kinder dann darüber berichten, ist vieles, was sie auf der Wanderung vielleicht als gar nicht so toll wahrgenommen haben, etwas Besonderes. Ich habe mit meinen drei Kindern einmal eine sehr anstrengende Hüttenwanderung gemacht, und wir mussten in einem großen Schlafsaal übernachten. Zudem hatten mein ältester Sohn und ich uns den Magen verdorben. Es war fürchterlich. Später nannten wir das dann nur noch „die Horrorwanderung“. Aber erst vor kurzem haben wir darüber gesprochen, und da sagten sie: „So schlimm war das gar nicht. Eigentlich war das ganz cool.“ Das hat aber zwei Jahre gedauert, bis das so gedreht werden konnte.
Als Kind fand ich Wandern auch doof. Heute mache ich es mit Leidenschaft.
Ich habe es auch so erlebt. Erst mit dem Alter habe ich mehr Freude daran gefunden.
Vor diesem Hintergrund: Wie bereitet man Kinder am besten auf eine Wanderung vor?
Die Heldenreise beginnt ja schon bei der Entstehung der Idee. Schon bei der Planung sollte man die Kinder mit einbeziehen, vielleicht nicht von einer Wanderung, sondern von einer Abenteuertour sprechen. Außerdem brauchen die Kinder eine Ausrüstung, um ins Abenteuer zu gehen. Ein Multitool, gutes Schuhwerk, passende Kleidung – damit sie das Gefühl haben, sie sind richtig gut gewappnet. Dann trauen sie sich auch mehr zu.
Warum hat der Begriff „Wandern“ eigentlich so ein schlechtes Image?
Ich glaube, dass sich das verändert und dass auch jüngere Menschen das nicht mehr als den Sport für Oma und Opa wahrnehmen.
Warum?
Weil infolge der zunehmenden Digitalisierung und auch der Pandemie die Sehnsucht nach dem körperlichen Erleben sehr stark geworden ist. Denn das haben wir in unserem technisierten Alltag immer weniger. Wandern ist extrem analog.
„Klettern“ und „Klettersteig“ kommt bei Kindern viel besser an.
Vielleicht, weil Klettern noch viel näher an der natürlichen Ursprünglichkeit ist. Im Gegenzug dazu hat man mit dem Seil eine zivilisierte Absicherung. Das ist schon noch mal eine andere Dimension als das normale Wandern. Das In-der-Natur-Sein spielt sich psychologisch in einer Matrix mit vier Dimensionen ab. Auf der einen Seite gliedert man sich demütig ein in die Natur, auf der anderen Seite steht ein heroisches, kämpferisches Bewältigen. Auf der einen Seite ist Kultiviertheit, auf der anderen Ursprünglichkeit.
Gibt es bei Kindern so etwas wie Distinktionsgewinn, also zum Beispiel das Gefühl, sich durch einen Klettersteig vom einfachen Wanderer abzuheben?
Birgit Langebartels (nach einer kurzen Pause): Würde ich jetzt nicht unbedingt sagen. Kinder denken sich nicht, es fühlt sich nachher besser an, weil ich das Montagmorgen in der Schule erzählen kann. Es ist eher das Erleben der Bewährungsprobe mit Abenteuercharakter. Das motiviert Kinder mehr als dieses „Ey, und dann könnt ihr das nachher auch dementsprechend erzählen“.
Sollte man ehrlich sein, auch wenn man eine Riesentour vorhat? Oder besser: „Nein, wir sind gleich da“, obwohl es noch Stunden dauert?
Auf jeden Fall ehrlich sein! Sonst ist das ein Bumerang. Und man kann auch mal sagen, dass man es selber anstrengend findet und mal eine Pause braucht.
Und wenn die Kinder schlappmachen: Mit welchem psychologischen Trick schafft man es dennoch bis zum Gipfel?
Indem man sich dem Tempo der Kinder anpasst! Weil die am Wegesrand andere Dinge wahrnehmen und spannend finden, vielleicht kann man auch mal einen Weg verlassen und querfeldein gehen.
Ist die Seilbahn als Unterstützung erlaubt? Oder wäre das pädagogisch nicht wertvoll?
Doch! Natürlich ist die Seilbahn mal erlaubt. Für Kinder, die nicht in den Bergen wohnen, ist das auch was Spannendes. Man kann ja einen Teil mit der Gondel und einen Teil zu Fuß machen.
Gibt es einen Unterschied zwischen Stadt- und Landkindern?
Ich glaube schon. Für Kinder, die in der Nähe der Berge wohnen, ist es viel natürlicher, das oft zu machen.
Oder gerade nicht, weil die Berge immer verfügbar sind?
Birgit Langebartels (wieder eine kurze Pause): Ich weiß es nicht. Ich glaube aber nicht, dass Stadtkinder sagen, das mache ich auf jeden Fall, weil es das Gegenprogramm zur Stadt ist. Das ist Erwachsenen-Denken.
Guter Punkt. Denken Erwachsene in falschen Kategorien? Sind Kindern Dinge wie Gipfel oder Aussicht überhaupt wichtig? Oder auch Entspannung und Achtsamkeit?
Das ist bei Kindern viel mehr implizit. Sie erleben gemeinsame Momente mit Familie und Freunden, sie haben das Gefühl, etwas geschafft und etwas Aufregendes erlebt zu haben. Aber sie nehmen sich das nicht vor. Erwachsene dagegen sehen in dem In-der-Natur-Sein den heilsamen Gegenentwurf zum sich schnell drehenden Alltag.
Wie sollten sich Erwachsene in schwierigen Situationen verhalten, etwa in einem Unwetter oder bei einer Verletzung? Oder wenn sie selbst Angst haben.
Sie sollten den Kindern klar machen, dass es eine Situation ist, in der man wirklich achtgeben muss. Aber auch versuchen sollte, die Angst zu zügeln. Wenn Kinder das so ungefiltert mitbekommen, ist es schwierig.
Wie bereitet man Kinder auf die Gefahren am Berg vor?
Vielleicht so, wie sich eine Mannschaft vor dem Spiel nochmals sammelt und sich mental vorbereitet. Vielleicht nimmt man eine Karte und erklärt: So, das haben wir heute vor, und dort wird es schwierig, da müssen wir achtgeben, und ihr müsst bei Mama und Papa bleiben.
In welchem Alter kann man mit Kindern am besten wandern?
Ich würde mich nicht auf ein Alter festlegen wollen, denn es kommt auf die Ansprache an. Natürlich ist es mit zunehmendem Alter schwieriger, wenn die Kinder dann noch in die Pubertät kommen. Da geht es dann darum, sich abzugrenzen und nicht die gleichen Hobbys wie die Eltern zu haben.
Das klingt gar nicht gut.
Es kann dann motivierend sein, mit anderen Familien und anderen Kindern wandern zu gehen. Oder einen Hund mitzunehmen.
Motiviert Kinder der Kinder-Erlebnis-Pfad, den es in vielen Wanderregionen gibt?
Manchmal ist der nicht ausgeschriebene Erlebnispfad schon Erlebnis genug. Es kommt darauf an, sich dem hinzugeben, und da sind weniger die Kinder gefragt als die Erwachsenen. Da müsste man die Frage auch mal umdrehen. Nicht: Wie kann man die Kinder motivieren? Sondern: Wie kann man die Erwachsenen motivieren, kindgerecht wandern zu gehen?
Sind Mittelgebirge für Kinder die besseren Alpen, weil sie dort schneller am Gipfel sind?
Nein. Es kann schon auch in den Alpen sein, da kann man dann ja die Seilbahn nehmen, an der Hütte haltmachen oder in den kalten Bergsee springen. Wichtig ist, dass man es in Etappen einteilt und variiert. Und auch einen schönen Abschluss findet, zum Beispiel, indem man nach der Wanderung gemeinsam ein Eis isst.
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