Chrigel Maurers Hike & Fly-Ausflug
Foto: David Birri
Auf einen Gipfel steigen ist schön – wenn da nur nicht der oft anstrengende Abstieg wäre. Dieses Problem kennt der Gleitschirmprofi Chrigel Maurer nicht. Er nimmt uns mit auf einen Hike & Fly-Ausflug, wo man nach dem Aufstieg gemütlich mit dem Schirm ins Tal gleitet.
Dominik Osswald für das Bergweltenmagazin April 2019
Nach diesem Tag will man nur eins: selber das Gleitschirmbrevet machen und nie mehr zu Fuß von einem Gipfel absteigen. Hoch wandern und runter fliegen – diese Kombination zweier Bergsportarten erzeugt einen süchtig machenden Cocktail aus Adrenalin- und Glückshormonen. Doch der Reihe nach.
Wir treffen Chrigel Maurer in Adelboden, wo er aufgewachsen ist. Jeder kennt ihn hier, längst trägt er den Übernamen „Adler von Adelboden“. Denn er verbringt fast mehr Zeit in der Luft als am Boden.
Es ist früh am Morgen. Die Luft ist ruhig, und trotz des schönen Wetters ist Maurer skeptisch, ob sich die Thermik, die es für einen längeren Flug braucht, auch aufbauen wird. Er breitet die Karte aus und zeigt, was er im Sinn hat.
Über ein einsames Hochtal wollen wir auf einen Pass wandern, von dort einem Klettersteig folgen, der uns auf den Ammertenspitz bringt. „Der Gipfel bietet südseitig steile Grashänge, die für einen Start ideal sind. Dann fliegen wir zum Bergrestaurant Engstligenalp, wo wir ein Stück Kuchen nehmen. Je nachdem, wie gut die Thermik ist, können wir direkt nach Adelboden zurückfliegen.“
Der 36-jährige Maurer gilt als der beste Gleitschirmpilot der Welt. Seit Jahren dominiert er das härteste Rennen der Szene, das Red Bull X-Alps, zuletzt gewann er es im Juni, zum bereits sechsten Mal in Folge. Der Hike & Fly-Wettbewerb führt entlang des Alpenhauptkamms von Salzburg nach Monaco, und die Athleten dürfen nur die eigene Muskelkraft und den Gleitschirm nutzen.
Zwischen den obligatorischen Checkpoints wählen sie ihre Route selbst – wo sie starten und landen, wie weit sie fliegen, wie viel Strecke sie zu Fuß zurücklegen. „Man versucht natürlich, so lange wie möglich in der Luft zu bleiben“, erklärt Maurer, während wir im schattigen Hochtal zum Pass hochsteigen.
Seit die Gleitschirme immer leichter werden und im Rucksack gerade noch so viel Platz einnehmen wie ein Sommerschlafsack, kommt die reizvolle Kombination „Bergsteigen und Fliegen“ immer mehr in Mode. Heute ist Chrigels Rucksack zwar etwas größer, weil wir mit dem Tandemschirm fliegen werden. „Aber wenn ich allein gehe, dann sieht man mir von außen nicht an, dass ich einen Schirm dabeihabe“, sagt er.
Maurers Heimat Adelboden liegt am Übergang der grasigen Voralpen zu den felsigen und vergletscherten Flanken des Wildstrubels, der das Berner-Oberland vom Wallis trennt. Ideales Gelände für ausgiebige Hike & Fly-Aktionen, denn an den grasigen Gipfeln findet man oft gute Startplätze. Zuerst steht nun allerdings der Klettersteig an, der etwas exponiert über einen felsigen Grat führt, ehe wir den höchsten Punkt des Ammertenspitzes erreichen werden.
Chrigel, der gelernte Maurer, startete seine Sportlerkarriere als Gleitschirmpilot und wurde mehrfach Schweizer Meister. „Früher war für mich aber klar: Hoch geht’s mit der Seilbahn.“ Doch inzwischen hat sich Maurer zu einem vielseitigen Athleten gewandelt, der auch am Boden Höchstleistungen erbringt. Schaffte er früher mit Mühe 1.000 Höhenmeter Aufstieg an einem Tag, so sind es heute locker 3.000.
Diese erstaunliche Entwicklung hängt stark mit dem Red Bull X-Alps zusammen. Als er sich 2009 zum ersten Mal für eine Teilnahme bewirbt, wird er für einen der lediglich 30 Startplätze selektioniert – und gewinnt das Rennen auf Anhieb. Keiner bleibt so lange in der Luft wie Maurer, der eine Art sechsten Sinn für die Luft zu besitzen scheint. Er kann sie förmlich lesen; er weiß, wo sie steigt, wo sie fällt, welche Linie es braucht, um gerade noch über den nächsten Kamm zu kommen.
Maurer gegen den Rest
Und so hieß es in den letzten Red Bull X-Alps-Rennen stets: Maurer gegen den Rest. Oft erreichte er Monaco mit einem Vorsprung von mehr als einem Tag auf seine Mitstreiter, beim letzten Rennen waren es auch wieder fast 19 Stunden.
Auf dem Ammertenspitz angekommen, genießen wir zuerst einmal die Weitsicht. Adelboden liegt inzwischen weit unter uns und eine gute Distanz entfernt.
Chrigel hält nach dem idealen Startplatz Ausschau und erklärt, was ihm dabei durch den Kopf geht: „Wir befinden uns jetzt an einem Südosthang, und es hat einen leichten thermischen Aufwind. Aber das ist nicht gerade viel. Es wird uns helfen, gut wegzukommen, aber groß tragen wird es uns nicht. Wir drehen daher gleich nach dem Start links weg und fliegen nahe an der Flanke aus dem Tal heraus, Richtung Engstligenalp.“
Nur fünf kräftige Schritte, und schon spannt sich das Tuch über uns und trägt uns zuverlässig vom Ammertenspitz weg. Sofort zieht Chrigel eine scharfe Kurve und schmiegt sich eng an die abschüssige Bergflanke zu unserer Linken. Zuweilen scheint der linke Zipfel des Schirms fast die Flanke zu berühren, so nah düsen wir am Berg entlang.
Immer wieder heben uns Thermikschübe in die Höhe. Als das Bergrestaurant mit seinen gelben Sonnenschirmen näherkommt, zieht Chrigel weg von der Flanke. Sofort haben wir einige hundert Meter Luft unter uns und stechen in einer steilen Spirale hinunter. Chrigel landet so, dass wir keinen Meter zu viel gehen müssen, und zur Freude der Restaurantgäste fällt der Gleitschirm mehr oder weniger über den Sonnenschirmen zusammen.
Bei Kaffee und einem feinen Aprikosenkuchen erklärt Chrigel unseren Weiterweg. Wir starten direkt über dem Wasserfall, der unweit des Bergrestaurants in die Tiefe stürzt. Wegen der abschwächenden Thermik dürfte es eng werden, unseren gut fünf Kilometer entfernten Landeplatz im Flug zu erreichen. „Wichtig ist einfach, dass man immer einen Plan B hat“, erklärt er. „Es braucht immer noch einen Ausweg für eine sichere Landung.“
Zeit für Plan B
Unser zweiter Start ist deutlich anspruchsvoller als oben am Ammertenspitz. Da bereits nach wenigen Metern der Wasserfall unter uns abfällt, müssen wir entweder sofort wegkommen oder aber den Start rechtzeitig abbrechen, wenn etwas nicht passt. Unter uns tost der Wasserfall, und Chrigel lenkt zur Talflanke, wo er Aufwind vermutet.
Adelboden rückt näher, doch auch wir verlieren an Höhe. Chrigel meint: „Jetzt ist wohl Zeit für Plan B.“ Er zieht rechts weg, und wenig später setzen wir in offenem Gelände ruhig auf. Innert Minuten sind Schirm und Gurtzeug wieder verstaut. Den letzten Kilometer nach Adelboden gehen wir gemütlich zu Fuß.
Es ist ein unwirkliches Gefühl: Wir haben soeben den Weg vom Gipfel, der zu Fuß Stunden gedauert hätte, in einem zwanzigminütigen Flug hinter uns gebracht. Gebraucht hat es nichts weiter als ein großes Tuch – und Chrigel Maurers Gespür für Luft.
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