Hike & Fly in Osttirol
Foto: Bernhard Huber
Hike & Fly verspricht Berggenuss ohne mühsamen Abstieg, dafür mit unerhörter Freiheit in der dritten Dimension. Wir machen den Selbstversuch in den Lienzer Dolomiten.
Werner Jessner für das Bergweltenmagazin Oktober/November 2018
Stirnlampen, zähe Beine, leichtes Frösteln. Der 15-Kilo-Rucksack drückt noch, aber egal. Treffpunkt um 5.30 Uhr am Parkplatz der Dolomitenhütte auf 1.600 Metern. Lienz liegt 900 Meter unter uns, rund 1.000 Höhenmeter Aufstieg erwarten uns. Es ist nicht nur dunkel, sondern vor allem nebelig. Am Steig geht es sofort steil bergan. Weg mit der Jacke, weg mit dem Fleece. Der kurze Ärmel hat Saison in diesem Spätsommer.
Die Hochsaison des Hike & Fly beginnt jetzt und hat ihren Höhepunkt im Spätherbst, wenn die Lärchen in Farben explodieren, der Speik sein letztes Aroma ausatmet und die Preiselbeeren erst richtig gut schmecken, sobald der erste Frost ihre Haut blässlich werden lässt.
Mit dem ersten Talschnee ist die Saison auch schon wieder vorbei, und die Gleitschirmpiloten – zumindest die besten, die fittesten unter ihnen – warten darauf, dass die Schneedecke dicht genug ist für die ersten Speedriding-Abfahrten des Winters, Fliegen auf und über Schnee.
Captain, sag was
Unser Mann kennt alle Spielarten des Paragleitens, entwickelt Material mit, ist im Betreuerstab von Red Bull X-Alps, jenem Extrembewerb, bei dem man nur mit Schirm und zu Fuß von Salzburg nach Monte Carlo gelangen muss, und er kennt den Dolomitenmann von allen Seiten. Außerdem ist er Vater zweier Söhne, hauptberuflicher Tandempilot und hat als Jahrgang 1975 sein halbes Leben am Schirm verbracht, Tendenz steigend. Unser Mann heißt Daniel Kofler.
Wenn du dich in der Luft an jemanden binden willst, dann an ihn. Wir hatten unser Vorhaben mehrfach verschoben. Sommer: keine Saison, seltsame Winde, „und ihr wollts ja was Gscheits“. Täglich schickt Daniel Wettergrafiken aufs Smartphone, dazu vielversprechende Routenvorschläge. Der aufregendste davon: Laserzwand, 2.600 Meter Seehöhe, gleich daneben der majestätische Rote Turm. Start Richtung Norden, Landung in Lienz ungefähr 40 Minuten später.
Die Wetter-Bulletins reißen nicht ab. Ende September schließlich die gemeinsam getroffene Entscheidung: Okay, wir probieren es. Die endgültige Entscheidung würde bei Daniel liegen. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Erst ein einziges Mal ist der Flug von der Laserzwand mit einem Tandemschirm geglückt.
Um ein Gefühl für die Dimensionen zu bekommen: Ein Tandemschirm hat eine Fläche von 42 Quadratmetern – eine kleine Wohnung. Daniels kleinster Schirm, mit dem er in wenigen Minuten wieder unten in Lienz ist, hat 7 Quadratmeter – ein Badezimmer.
Mit dem großen Ding im hochalpinen Gelände überhaupt in die Luft zu kommen, wird keine Wiese sein, schon gar keine gemähte. Eher werden wir auf einer Geröllpiste mit Gras, Steinmandln und Murmeltierhöhlen anlaufen.
Erschwerend das Gewicht des Passagiers: 90 Kilo. Erschwerend auch: Schirm und Gurte, verteilt auf zwei Rucksäcke. Die Ausrüstung insgesamt wiegt 25 Kilo, der Schirm alleine 8. Dazu ein wenig Wäsche und Wasser. Nicht ganz so leicht, das alles nach oben zu bringen.
„Werst segn, des wird guat“, verspricht Daniel mitten im Nebel, während knapp unter der Waldgrenze die Wolkenschicht aufreißt und den Blick auf ein Panorama freigibt, das auf jedem Bildschirm von Welt als Standard-Desktop-Hintergrund taugen würde. Weg mit den Stirnlampen, die Sonne reißt den Gipfel des Spitzkofel bereits an.
Um halb 9 Uhr stehen wir an der Laserzwand mit dem Roten Turm als Nachbarn. Der Blick nach Norden offenbart Schreckliches: die dicke Nebeldecke, der wir vor zwei Stunden entkommen waren. „Miass ma woatn“, sagt Daniel. Na guat, woat ma. Nach einer Stunde schaut die Spitze des 1.800 Meter hohen Rauchkofel aus dem weißen Teppich. Am Horizont sieht man die Spitze des Großglockners. Die Sicht oben ist hervorragend, die unten nicht vorhanden. Woat ma?“
Im Gegensatz zu Flugzeugen dürfen Paragleiter nur auf Sicht fliegen. Instrumentenflug ist verboten. Daniel begründet die Sinnhaftigkeit dessen mit einem Bild, das du nicht mehr vergisst: „Was, wenn unten im Nebel ein Hubschrauber fliegt?“ Verstanden, woat ma. Wenn es Sicherheitsfanatiker gibt, dann Paragleiter mit zwei Jahrzehnten Flugerfahrung am Buckel.
Blöd ist außerdem der Ostwind, der Wolken aus Kärnten heranschaufelt, doch Daniel ist guter Dinge: „Wenn die Sonne ein erstes Loch in die Wolken reißt, geht’s meistens schnell.“ Erste Löchlein zeigen sich. Wanderer kommen vorbei, eine Partie feiert nebenan sogar Geburtstag auf 2.600 Metern. Wir warten.
Mittag ist längst vorbei. Im Südosten, dorthin wollen wir starten, baut sich eine leichte Thermik auf. Das ist gut, doch das Loch in der Wolkendecke über Lienz ist noch zu klein. Orientierung im Nebel? Selbst wenn du die Berge hier tausendfach beflogen hast: unmöglich.
Woat ma noch? „Noch woat ma.“ Die Sonne heizt runter, der Boden ist nur knapp nicht gefroren. Daniel montiert die Windfahne auf die Spitze seines Trekkingstocks: nichts. Windstille. Keine Chance, das Riesenzelt von einem Schirm überhaupt in die Luft zu kriegen, geschweige denn, sicher zu starten.
Wer war eigentlich dein schwerster Passagier? „Ein Holländer. Über zwei Meter groß und 120 Kilo schwer. Mit dem willst keinen Startabbruch haben.“ Daniel wiegt deutlich unter 80 Kilo. Der Wind, er kommt nicht. Wir warten auf Ablösen, die würden uns Gegenwind beim Start und somit Höhe geben. Doch leider sind da Cirruswolken, die die Sonneneinstrahlung… Mit Paragleitern unterwegs zu sein heißt – neben Warten –, auch etwas über das Wetter zu lernen.
Eine Entscheidung ist eine Entscheidung
Wir gehen nach unten zum zweiten möglichen Startplatz. Hundert Höhenmeter, volles Gepäck am Rücken, leider wieder nichts. Eine halbe Stunde später wieder retour zur Laserzwand: Der Nebel ist weg, aber der fehlende Wind lässt den Start zu riskant erscheinen. Wieder runter zu Startplatz 2: nichts, keine Chance.
Es ist 14 Uhr, wir sind seit siebeneinhalb Stunden unterwegs. Wieder zu Fuß runter ins Tal? Daniel: „Es gibt keine Garantie auf einen Flug. Von zehn Versuchen klappen in der Regel sieben. Hike & Fly ist nicht McDonald’s, wo du kriegst, was du bestellt hast.“ Startplatz 3 noch weiter unten? Es gibt wenige Ablösen, doch es gibt sie. Bald oder nie, denn das bisschen gute Luft, das sich gerade bietet, wird bald wieder verschwinden. Wortlos trifft Daniel die Entscheidung, indem er den ersten unserer beiden Rucksäcke öffnet und den Schirm rausholt.
Verdammt, ist das Ding groß, es blockiert den Steig zur Laserzwand großflächig. Eine Entscheidung ist eine Entscheidung. Daniel zieht den Schirm hoch, überprüft, ob alle Leinen frei liegen und entdeckt zwei Steine in den Kanälen seines Schirms, faustgroß. Erst in der Akribie, Präzision und Professionalität im Detail erkennt der Laie die Ausmaße des Unternehmens: zwei Menschenleben, 42 Quadratmeter Gewebe, ein paar Schnüre, 1.500 Meter Höhenunterschied.
Die Ablösen kommen, die Windfahne zeigt auf uns. Wir stecken im Geschirr, check, double-check und – psychologisch wichtig – als Letztes checkt der Passagier, ob auch tatsächlich alles fest sitzt.
Wind.
Los!
Laufen, laufen, laufen.
Laufen wie die Diebe, über Almboden,
Felsen, Steine.
Schneller als erwartet sind wir in der Luft. Im Rücken spüre ich Daniel arbeiten. Von rechts nähert sich eine Felswand. Nein, sie nähert sich nicht mehr. Doch, Daniel steuert tatsächlich näher. Der macht das absichtlich. Der weiß, was er tut. Nach zwei Minuten wechseln wir die ersten Worte. Links kommt der Rauchkofel vorbei, völlig nebelfrei.
Lienz jetzt, ziemlich verhüttelt und industriell eigentlich, aber wir kommen halt auch aus einem Paralleluniversum 1.500 Höhenmeter in absoluter Einsamkeit darüber. Der Wind pfeift, die Unterhaltung mit dem Piloten nimmt Fahrt auf, Daniel schätzt unsere Geschwindigkeit auf etwa 40 km/h. Es ist nicht kalt, es ist nicht zum Fürchten, es wackelt kaum. Um das große Freiheitsgefühl auch tatsächlich empfinden zu können, müsste man das öfter machen. Es bräuchte geistige Kapazität, die beim Erstflug noch dafür draufgeht, das Wunder zu begreifen, dass hier 200 Kilo an ein wenig Tuch und Schnur in der Luft hängen.
Noch ist der Landeplatz fürs ungeübte Auge nicht erkennbar, da ortet Daniel potenzielle Probleme: „Unten ist es windig.“ Was sich für den Passagier wie Schlaglöcher in der Straße anfühlt, ist für den Piloten eine Mischung aus Gefühl, Reaktion und Aktion: „Aktiv fliegen“ nennt er es, den Schirm ständig auf Spannung zu halten, seinen Leinen, Kanälen und Textilien den Willen aufzuzwingen, dass er uns zehn Stunden später genau dort ausspucken wird, wo wir am frühen Morgen das zweite Auto geparkt hatten.
„Jetzt könnte es ein bisschen rumpeln. Und es könnte sein, dass uns der Schirm nach hinten zieht.“ Nichts davon geschieht. Sanft setzen wir auf der Wiese auf, hinter uns geht der Schirm zu Boden. „Schau, da oben sind wir losgeflogen“, sagt Daniel und zeigt auf den Berg hoch oben am Horizont. Eine andere Welt, in der Tat. Das Warten hat sich gelohnt.
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