Das Lied von Eis und Fels: Die Blüemlisalp
Foto: Raffael Waldner
Sagen, Songs und Erstbesteigungen – die BLÜEMLISALP in den Berner Alpen zieht als Bergmassiv Musiker, Geschichtenerzähler und Alpinisten gleichermassen in seinen Bann.
Manuela Enggist für das Bergweltenmagazin April 2019
Bernhard Mani steht vor seinem Haus im Kiental. Vor ihm weiten sich grüne Weiden, der Himmel ist blau. Mit der linken Hand schirmt er seine Augen vor der Sonne ab, mit der rechten zeigt er in Richtung des blauen Himmels. „Da oben, das ist sie: die Blüemlisalp!“ Bernhard, heute achtzig Jahre alt, bewirtschaftete mit seiner Frau Vreni zusammen von 1977 bis 2007 die Blüemlisalphütte des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) – zu einer Zeit, als noch 90 Prozent der Gäste Bergsteiger waren, Wanderer nur selten vorbeikamen und der Znacht aus einer einfachen Suppe mit Wurst bestand.
Sein ganzes Leben lang hatte Bernhard die Blüemlisalp zwischen Kiental und Kandersteg im Blick. Wenn er nicht oben auf der Hütte arbeitete, dann sah er sie vom Tal aus. Denn dort war er im Winter als Skilehrer tätig.
„Dieser Berg ist einfach eine Pracht“, sagt der ehemalige Hüttenwart, während er sich noch immer schützend die Hände vor die Augen hält: „Im Abendrot einfach unvergleichlich!“ Die Blüemlisalp und ihn verbindet eine lange Geschichte. Schon als Bub faszinierte ihn der Gebirgsstock.
Mit vier Haupt- und drei vorgelagerten Gipfeln ist die Blüemlisalp ein mächtiges Massiv aus Fels- und Eis, das sich zwischen Kandersteg und Kiental im Berner Oberland erhebt. Im Westen bildet das Blüemlisalphorn mit 3.661 Metern den höchsten Punkt, in der Mitte die Wyssi Frau (3.648m), im Osten das Morgenhorn (3.623 m) und – etwas niedriger – das Oeschinenhorn (3.486 m) im Westen. Auf der Nordseite des Berges ragen die drei Vorgipfel Blüemlisalp-Rothorn (3.297 m), Ufem Stock (3.221m) und Wildi Frau (3.260 m) in die Höhe.
Neue Songs und alte Sagen
So bilden diese sieben das mächtigste Monument in der Berner Alpenkette. Von diesem war nicht nur der junge Bernhard Mani beeindruckt: Die Gratüberschreitung vom Morgenhorn über die Wyssi Frau bis hin zum Blüemlisalphorn zählt zu den großen Touren der Berner Alpen – und zu den schönsten Firntouren im ganzen Alpenraum.
Auch die Tour zum Bergübergang Hohtürli, die einen einzigartigen Blick in die Gletscherwelt an der Nordflanke der Blüemlisalp verspricht, gehört zu den wohl populärsten Passwanderungen der Schweiz.
Doch nicht nur unter Bergsteigern und Wanderern hat die Blüemlisalp einen speziellen Platz eingenommen: Sagen, Geschichten, Gemälde und sogar Lieder handeln von dem Berner Bergmassiv. Schon früh verewigten Künstler und Schriftsteller wie Ferdinand Hodler oder Friedrich Dürrenmatt die Blüemlisalp in literarischen und bildnerischen Werken.
2006 gelang Mundartstar Polo Hofer mit seinem Ohrwurm „Alperose“, in welchem die Blüemlisalp eine zentrale Rolle spielt, der wahrscheinlich populärste Schweizer Mundartsong aller Zeiten. Weitaus weniger romantisch ist die Sage rund um das Bergmassiv, in dem das frevelhafte Leben eines jungen Senners auf der Alp furchtbare Folgen hat. Noch heute soll man in klaren Nächten die panischen Schreie des sündigen Mannes hören können, der mit seinem „Weib“ und seinen Tieren an der Blüemlisalp von mächtigen Fels- und Eisbrocken begraben wurde.
In jungen Jahren machte Bernhard Mani die Bergführer-Ausbildung. Damals war sein Onkel Hüttenwart auf der Blüemlisalphütte. Als der nicht mehr wollte, drängte Bernhards Frau Vreni ihn dazu, sich zu bewerben. „Sie dachte, so hätten wir mehr Zeit miteinander“, sagt’s, und sein braun gebranntes Gesicht verzieht sich zu einem Lachen, die Augen werden kleiner.
Die Familie bekam den Job, doch die ersten Jahre waren hart. Er, der mit siebzehn Jahren das erste von über hundert Malen auf dem Blüemlisalphorn stand, hatte bei jeder Morgendämmerung Mühe damit, die anderen Bergsteiger losziehen zu sehen, denn: „Ich wollte lieber führen als mich um die Hütte kümmern.“ Doch die Sommer kamen und gingen, und die Zeit machte aus dem Bergführer einen Hüttenwart aus Leib und Seele.
Ein See als Weltnaturerbe
Szenenwechsel. Auf der Nordseite der Blüemlisalp liegt auf knapp 1.600 Metern der bekannte Oeschinensee. Der türkisfarbene See, gespeist von kristallklarem Gletscherwasser, ist Teil des UNESCO-Weltnaturerbes und gehört für viele auf die Liste der schönsten Bergseen der Alpen. Wer im Berghotel Oeschinensee übernachtet, kann in aller Einsamkeit auf der Terrasse das reichhaltige Morgenbuffet und den Blick auf den See und die Blüemlisalp genießen, bevor die erste Gondel um neun Uhr Wanderer und Touristen von Kandersteg aus hochbringt.
Das Gastgeberpaar Christoph und Lea Wandfluh schätzt diese ruhigen Stunden mitten in der Hochsaison ganz besonders. „Wir sind froh, dass wir unseren Hotelgästen diese stillen Momente in dieser unvergleichlichen Natur bieten können“, so Christoph Wandfluh.
Auf der Terrasse stärkt sich auch Bergführer Sven Schärer mit einer Tasse Kaffee, bevor es hoch zur Blüemlisalphütte geht. Der 27-Jährige hat seine Kindheit auf der Doldenhornhütte verbracht, die seine Eltern als Hüttenwarte bewirtschafteten. Im zarten Alter von dreizehn Jahren stand Schärer zum ersten Mal auf dem Blüemlisalphorn.
Er zog damals allein los mit seinem Zwillingsbruder. „Mit den Bikes fuhren wir hoch zum Oeschinensee, warfen diese ins Gebüsch und liefen einfach mal los“, erinnert sich Schärer.
Im letzten Sommer stand der junge Bergführer mit besonderen Gästen auf ebendiesem Gipfel: den Urenkeln von Fritz Ogi, einem der Erstbesteiger des Blüemlisalphorns. „Das war schon ein spezielles Erlebnis!“, erinnert sich Schärer gerne zurück.Im August 1860 gelang dem damals 31-jährigen Bergführeraspiranten Fritz Ogi zusammen mit Leslie Stephen, einem berühmten englischen Bergsteiger, sowie vier weiteren Alpinisten, die abenteuerliche Erstbesteigung.
Dabei blieb der Gipfel des Blüemlisalphorns nicht die einzige Erstbesteigung des Kanderstegers: Fritz Ogi war auch als Erster auf dem Fründenhorn, dem Oeschinenhorn, dem Blüemlisalp-Rothorn, und er stieg als Erster von der Nordseite auf die Wildi Frau.
Der Aufstieg vom Oeschinensee hoch auf die Blüemlisalphütte dauert rund vier Stunden. Dabei gibt es zwei Varianten. Entweder man wählt den unteren Weg via Underbärgli durch die Felsbalmen, oder man begeht die Route via Oberbärgli. Diese Variante erlaubt es, den Oeschinensee aus einer anderen, schwindelerregenden Perspektive zu sehen.
Klettern und gleiten
Bei der Alp Oberbärgli vereinen sich die beiden Wegvarianten wieder. Über die Seitenmoräne des Blüemlisalpgletschers steigt man in die Schutthalden am Südhang des Schwarzhorns. Im Zickzack geht es durch die Geröllfelder weiter hoch. Mit jedem Schritt wird die Sicht auf den trotz starken Gletscherschwunds noch immer beeindruckenden Blüemlisalpgletscher besser. Und plötzlich, nachdem die Hütte für eine lange Zeit nicht näherzukommen schien, steht man auf der Passhöhe Hohtürli.
Hier kommen die beiden Aufstiege vom Kiental sowie vom Oeschinensee zusammen. Von der Hütte starten in den frühen Morgenstunden viele Bergsteiger auf den Spuren der Erstbesteiger auf das Blüemlisalphorn – oder unternehmen die anspruchsvolle komplette Überschreitung. Doch die wunderschöne Firntour vom Morgenhorn über die Wyssi Frau bis zum Gipfel der Blüemlisalp fordert auch versierte Bergsteiger, die sich sicher in steilen Firn und Kletterpassagen zu bewegen wissen.
Neben Bergsteigern, die vor der Dämmerung losziehen, zieht der Gebirgsstock auch andere Sportler an: Wenn das Wetter und der Zeitpunkt passen, kann man von der Terrasse der Hütte aus Patrick von Känel und Sepp Inniger beim Training zuschauen. Die Gleitschirmpiloten sind Teil der X-Alps-Academy, die den Aufbau eines Nachwuchsteams für die Schweiz fördert und junge Talente trainiert.
Gegründet wurde die Academy vom mehr maligen X-Alps-Gewinner Chrigel Maurer. Er hat als Wettkampfpilot sowohl im Streckenflug als auch in der Akrobatik Großes erreicht.
Um die Wette fliegen
Im letzten Jahr nahm das Trio an der zum ersten Mal ausgetragenen Eigertour teil: einem Gleitschirm-Wettbewerb, der jeweils im Juli an vier Tagen in Grindelwald und den Berner Hochalpen stattfindet. Dabei wird neben anderen Hütten auch die Blüemlisalphütte angeflogen. Während des Trainings sind die beiden Nachwuchspiloten von Känel und Inniger oft bei der Blüemlisalp unterwegs, die sich als Gelände gut zum Starten und Landen eignet. „Die Nähe zu den Gipfeln der Blüemlisalpgruppe und der Blick von oben auf den See sind einmalig“, sagt Inniger.
Wer nach dem strengen Aufstieg oder auf dem Weg zum Gipfel auf der Blüemlisalphütte nächtigt, kann sich auf ein währschaftes Dreigangmenü freuen. Die Hütte wird heute von Hans und Hildi Hostettler geführt. Sie ist Köchin, er Bergführer, Schneesportlehrer und Bergretter bei der Alpinen Rettung Schweiz. Sie bestreiten in diesem Jahr ihre zwölfte Saison auf Blüemlisalphütte, die mit ihren 124 Schlafplätzen im Massenlager zu den größten und meistbesuchten Hütten im Alpenraum gehört.
Im Gegensatz zu den versierten Bergsteigern ist für viele Wanderer die Übernachtung hier oben die erste Nacht in einer SAC-Hütte überhaupt, wie Hans Hostettler erklärt: „Die Tour hier hoch ist auch bei Wanderern beliebt, die sonst vielleicht eher weniger in den Bergen übernachten. Sie fragen dann oft, wie das auf so einer Hütte mit dem Essen und den Finken funktioniert.“
Die Tage sind für die Hüttenwarte lang. Nach jedem Znacht beantwortet Hostettler die Fragen der Bergsteiger, die Besteigungen in der Blüemlisalp-Gruppe planen. „Für das bin ich ja da, und das mache ich auch gerne.“ Der Hüttenwart steht kurz vor der Dämmerung in seiner Daunenjacke auf der Terrasse und blickt nachdenklich ins Tal hinunter. „So eine Hütte zu führen ist wahrlich kein normaler Beruf.
Aber es macht uns große Freude.“ Der Adelbodner hält kurz inne. „Es ist schon etwas Unglaubliches, hier einen Sonnenuntergang zu sehen.“Und wie hatte der einstige Hüttenwart Bernhard Mani unten im Kiental zum Abschied noch gesagt? Die Aussicht, die Abgeschiedenheit und die Befriedigung, hinaufgekommen zu sein, sind die schönste Belohnung für eine Tour auf die Blüemlisalp. Das mache für den Menschen den Reiz an den Bergen aus.
Recht hat er.
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