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Foto: Madlaina Walther
Wandern

Wandern im Val da Camp

• 29. Oktober 2021
4 Min. Lesezeit

Noch hat sich der Zauber des Puschlaver Seitentals Val da Camp nicht herumgesprochen: Das Blau und Grün und Türkis zahlreicher Bergseen hat man beim Wandern also fast für sich allein.


Üsé Meyer für das Bergweltenmagazin August/September 2019 aus der Schweiz

Welcher ist der schönste Bündner Bergsee? Das Netz kennt darauf eine klare Antwort: 45.700 Fotos sind auf Instagram unter #caumasee zu finden, wohingegen der Lagh da Saoseo im Val da Camp und der Lai da Palpuogna oberhalb von Preda gerade zweitausendmal markiert wurden. Aber kann es auch sein, dass die beiden nur deshalb so wenig Aufmerksamkeit bekommen, weil man sie nicht kennt, sich ihre Schönheit also noch gar nicht herumgesprochen hat? Um das herauszufinden, fährt man zuerst einmal zum Rifugio Saoseo im Val da Camp, einem Seitental des Puschlav.

Es ist schweizweit die einzige SAC-Hütte, die bequem mit dem Postauto erreichbar ist. Im schmalen, langgezogenen, viergeschossigen Steinbau waren zwischen 1980 und 2019 Ruth und Bruno Heis zugange. Das Hüttenwart-Ehepaar hat weitaus mehr als die Hälfte seines Lebens im Val da Camp verbracht. Der letztjährige Sommer war ihre letzte Saison hier oben.

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Das bedauert auch Nicole, 27, die jüngste der vier Töchter: „Es ist schon schwer, das hier aufzugeben.“ Die Kinder hatten den Großteil ihrer Kindheit und Jugend hier oben verbracht. „Aber immerhin hat unser Vater nun sein Ziel erreicht: 40 Jahre in der Hütte“, sagt Nicole. Dem 68-Jährigen ist der Abschied von der gemütlichen Hütte trotzdem nicht leicht gefallen: „Klar, ich muss mich jetzt anders beschäftigen – mit Bergsteigen, Reisen, den Enkeln. Sonst wird man ja verrückt.“ Und was vermisst er am meisten? Er lächelt verschmitzt. „Weißt du, krampfen musst du in einer Hütte wie irr – aber die Dankbarkeit der Gäste hat das alles wieder wettgemacht.“
 

Ein kleiner Bergsee.
Foto: Madlaina Walther
Kristallklares Wasser, eine Insel mit zwei Bäumen – ein Landschaftsarchitekt hätte am Lagh da Saoseo keine bessere Arbeit abliefern können als die Natur selbst.

Lokal & Biologisch

Erst eine gute Viertelstunde sind wir von der SAC-Hütte das Fahrsträsschen hochgewandert und stehen bereits vor dem nächsten und zugleich letzten Gasthaus im Tal, der Alpe Campo. Übernommen wurde dieses vor drei Jahren von Daniela Luminati Crameri. Ihr Credo lautet: nur frische und größtenteils regionale Bioprodukte kommen auf den Teller.

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So trägt das eine oder andere Menü der Alpe Campo auch das Label „100% Valposchiavo“. Es zeichnet zertifizierte Produkte aus, die ausschließlich aus dem Puschlav stammen. Und weil im Tal gut 95 Prozent der Landwirtschaftsfläche von Betrieben mit Bio-Suisse-Zertifizierungbewirtschaftet werden, verfügen die meisten lokalen Produkte über dieses Label. Derzeit sind es gut 250 Produkte, und das Sortiment reicht von Milch und Joghurt, Fleisch- und Wurstwaren, Gemüse und Kräutern bis hin zu Back- und Teigwaren. 

Eine Restaurant am Berg.
Foto: Madlaina Walther
Auf dem Weg zum Lagh da Val Viola erreicht man das Restaurant Alpe Campo, wo die Gastgeberin Daniela Luminati Crameri vorwiegend Biokost aus der Region serviert.

Durch den Wald, vorbei an zwei kleinen Seen, erreichen wir nach weiteren 30 Minuten den Lagh da Val Viola – den größten und vielleicht schönsten See im Seitental. Sein Ufer wird gesäumt von Arven, Lärchen, Alpenrosen und Wacholderbüschen, die nur durch den gewaltigen Schuttkegel eines Bergsturzes unterbrochen werden, der vor langer Zeit den See hat entstehen lassen. Die sonnenverwöhnte Lichtung am Nordostufer ist ein beliebter Picknickplatz, was auch die größere Menschenansammlung beweist.

Die Berglandschaft mit einem See im Hintergrund.
Foto: Madlaina Walther
In den Serpentinen des steilen Abstiegs vom Pass da Val Viola (Passhöhe 2.469m) zum Lagh da Val Viola (2.160m) überblickt man das Val da Camp.

Ins kalte Wasser des Bergsees wagen sich allerdings nur ein Hund und ein offensichtlich kälteresistentes Kind. Hangaufwärts folgen wir nun einem kleinen Bergbach und blicken nochmals zurück. Wow! Wie ein Gemälde in Pastell, irgendwo zwischen Kunst und Kitsch, wenn es denn nicht reale Natur wäre.

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Kaum vorstellbar, dass der Lagh di Saoseo noch schöner sein könnte. Wir überqueren den Plan de la Genzana. Dahinter erheben sich die gezackten Spitzen des Corno di Dosdè. Vollkommene Ruhe, kein Mensch weit und breit. In Richtung Südwesten erblicken wir in der Ferne den überraschend großen Gletscher des Pizzo Scalino (3.323 m). 

Ein Bergsteiger geht neben einem Bach entlang.
Foto: Madlaina Walther
Dem namenlosen Bergbach entlang steigt man zum Plan da la Genzana hoch, wo Enzian und Wollgras wachsen. Von hier aus ist es ein Katzensprung über die italienische Grenze.

Hüttenspezialität: Polenta

In entgegengesetzter Richtung, etwas unter uns, steht das Rifugio Viola, das dank seiner kulinarischen Meriten auch als „Polentahütte“ bekannt ist. Wie die Hütte befinden auch wir uns jetzt auf italienischem Boden. Was einen nicht zu verwundern braucht, denn das Val da Camp grenzt schließlich auf drei Seiten an Italien. Italienisch ist auch die Amtssprache im bündnerischen Puschlav. Gesprochen wird mehrheitlich Pus’ciavin – ein alpenlombardischer Dialekt.

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Durch die geografische Nähe als auch die wirtschaftliche Ausrichtung an das Oberengadin sprechen und verstehen die meisten Puschlaverinnen und Puschlaver allerdings auch Schweizerdeutsch. Und auch für ihre Ausbildung oder das Studium verlassen sie mangels lokaler Möglichkeiten die Talschaft. Im 19. Jahrhundert zwang die wirtschaftliche Situation im Tal viele, neue Verdienstmöglichkeiten im Ausland zu suchen – in Italien, Russland, Portugal oder Spanien.

Als Zuckerbäcker haben es einige von ihnen zu Wohlstand gebracht. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat ließen die stolzen Bäcker im Tal prächtige Villen und Palazzi bauen, die sich vom bestehenden Ortsbild abhoben. Einige dieser sogenannten „Zuckerbäckerhäuser“ können in der Via di Palazz am Südrand von Poschiavo bestaunt werden. 

Ein Wanderer ruht sich am Wasser aus.
Foto: Madlaina Walther
In der Wasseroberfläche des Lagh da Saoseo spiegelt sich die Gipfelpyramide des Corn da Camp (3.232m).

Ein Bild zum Verlieben

Auf dem Pass da Val Viola haben wir mit 2.469 Metern den höchsten Punkt unserer Wanderung erreicht. Von hier ist auch die höchste Erhebung zu sehen – der Piz Bernina ist mit seinen 4.048 Metern der einzige Viertausender der Ostalpen. Zurück auf Schweizer Boden, führt uns der Weg einer steilen Bergflanke entlang wieder in Richtung Südwesten.

Grün und Blau wie ein Opal leuchtet unter uns der kleine Lagh dal Dügüral. Wir haben nicht mitgezählt, aber das winzige Kleinod dürfte in etwa der zehnte See sein, den wir auf unserer abwechslungsreichen Wanderung passieren. Und nun zeigt sich in der Ferne auch noch der Piz Palü mit seinem gewaltigen Gletscher. Der Weg führt steil hinunter, kurz durch lichten Wald. Bald befinden wir uns rund 30 Meter senkrecht über dem Ostufer des Lagh da Val Viola.

Eine Berghütte in der Natur.
Foto: Madlaina Walther
Das Rifugio Saoseo ist die einzige SAC-Hütte, die mit dem Postauto erreichbar ist.

Der Weg ist steinig und mit zahlreichen Wurzeln durchsetzt, die unsere ganze Konzentration erfordern. Schon wieder passieren wir einen kleinen See. Gut 100 Höhenmeter weiter unten treten wir aus dem Nadelwald und haben ihn vor uns: den Lagh da Saoseo mit seinem türkisfarbenen Wasser. Um den See gibt es zahlreiche Uferplätze, die nur auf verschlungenen Pfaden zu erreichen sind. Einige jüngere Pärchen sammeln gerade Holz und legen ihre Matten für die Nacht aus. Wir schauen und sind fasziniert zugleich.

Es ist märchenhaft hier: #paradies #outdoorheaven #stoked.

Und wie lässt sich der Lagh da Val Viola mit den anderen Bergseen des Kantons Graubünden vergleichen? Diese Frage können wir beim besten Willen nicht beantworten. Eines wissen wir nach zwei Tagen Wandern im Val da Camp: Die Realität hält viel mehr, als die sozialen Medien versprechen.

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