Die Alp Streckwees auf dem Appenzeller Alpstein
Abends beten Sennen die Heiligen an, um Unheil von der Alp abzuwenden. Dass Frauen durch den Milchtrichter rufen, ist eher unüblich. Mina Inauen tut’s trotzdem.
Myriam Zumbühl für das Bergweltenmagazin Oktober/Novemeber 2018 aus der Schweiz
Auf der Alp Streckwees im Appenzeller Alpstein wähnt man sich mitten in einer Postkartenkulisse. Der Sämtisersee glitzert im Sonnenlicht, die Kühe grasen zufrieden auf der Weide, der Himmel ist klar, die Luft rein. Sennerin Mina Inauen, 67, zieht sich derweil die Trekkingsandalen aus und steht in einem Bottich mit kaltem Wasser. „Alpen-Luxus", nennt sie das und wäscht sich die Füße. „Normalerweise laufe ich hier oben nur in Laufsocken, das ist wie Barfußlaufen."
Nah an der Natur zu sein ist bei Mina wortwörtlich zu verstehen. Sie, die hier oben jeden Stein und jeden Baum kennt, wandert meistens abseits vom Weg in die Natur hinein. „So sieht man die Bäume anders, die Wurzeln, die schönen Blumen, die nicht am Wegrand stehen, und findet Waldbeeren, die man essen kann." Hat sie nie Angst, abseits vom Weg? „Ja wovor denn?", meint sie und lacht laut. „Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, schaue ich einfach aus dem Wald und orientiere mich an den Bergen. Dann weiß ich automatisch, in welche Richtung ich muss."
Das Glück in der Natur
Die Ruhe ist es, die Mina hier oben die nötige Sicherheit gibt. «Wenn du dich in der Natur sicher fühlst, hast du auch keine Angst im Leben. Dann reagierst du auf alles anders. Wenn es zum Beispiel am Himmel rollt und stürmt, dann kann ich das richtig genießen», meint sie. „Es gibt mir Geborgenheit. Die Naturgewalt lädt meine Batterie voll auf."
Die Energie braucht sie. Nicht nur, um für den Alpsegen tief Luft zu holen, sondern auch für die Arbeit als Sennin. Von Kindesbeinen an verbringt sie ihre Sommer hier oben, die letzten 23 Jahre mit ihrem Mann Andreas und 35 Tieren. „Es ist streng. Wir können den Kühen nicht den ganzen Tag beim Fressen zuschauen. Aber ich bin froh, gebraucht zu werden. Das ist im Alter nicht ganz unwichtig."
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Hier war es auch, wo sie als junges Mädchen eines Nachmittags von einem Milchkontrolleur in die Kunst des Betrufes eingeweiht wurde. Ein einfaches Ave Maria. Knapp vier Töne waren es, die sie in die Felsen warf, aber sie fuhren ihr tief ins Mark. „Es ist dieses tiefempfundene Glück, mit der Natur verbunden sein zu dürfen", versucht sie es in Worte zu fassen.
In den katholischen Berggebieten der Schweiz ist der Betruf ein jahrhundertealter Brauch. Allabendlich ruft der Senn durch einen hölzernen Milchtrichter eine archaische Gebetslitanei über die Alpen und bittet die Heiligen, die Alp, ihre Tiere und Menschen vor Unheil aller Art zu beschützen. Mit dem heiligen Gallus verbindet Mina eine ihrer liebsten Zeilen im Betruf: „B’hüets Gott allesamt, sei es Freund oder Feind, und die lieb Muttergottes mit ihrem Kind."
Mina hält kurz inne. „Würden wir uns alle daran halten, hätten wir Frieden auf dieser Welt." Oft hört man den Alpsegen nicht mehr, schon gar nicht von Frauen gesungen. Für Mina Inauen ist es eine Selbstverständlichkeit. „Eine Frau kann doch beten wie ein Mann. Also kann ich genauso gut den Alpsegen rufen." Salopp sagt sie: „Ich denke, wenn man keine zu piepsige Stimme hat, dann kann man den Betruf singen. Es bewegt sich ja alles in etwa drei, vier Tönen.
Es ist wie ein Choral, der gesungen wird." Mina hält es im Leben so wie auf der Alp: „Du musst von dem, was du machst, total überzeugt sein. Es muss für dich richtig sein, dann ist es egal, was andere denken." Im Alpsegenrufen zeigt sich ihre Stimmigkeit mit dem Leben. Vor allem auch dann, wenn sich ein Schatten über die Seele legt. Leben und Tod sind hier nah beieinander. „Wir haben es schon zweimal erfahren, dass ein Tier gestorben ist.
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Das ist ein sehr trauriger Moment, und mit dem Verlust musst du fertig werden. Aber es tut mich dann eigentlich beruhigen. Ich denke mir: Ich habe es ja in Gottes Hand gegeben, jetzt kommt es so, wie es muss." Ihre Religiosität hat etwas Rührendes, aber auch Umgängliches. „So isch ’s Läbe", sagt Mina.
Alles zu seiner Zeit
Bevor es ans Melken geht, gibt es für Mina und ihren Mann Andreas ein Z’Vesper. Sie deckt den Tisch mit Kaffee, Milch, Wasser, Brot, Honig und Butter. „Wer nimmt einen Kafi Schnaps?" Ihrer Tonlage ist zu entnehmen, dass das Angebot nicht auszuschlagen ist. Aber wann singt sie denn jetzt? Der hölzerne Trichter für den Betruf hängt an der Wand bereit. „Ich könnte den Alpsegen jetzt schon machen, aber für mich ist er ein Abendgebet.
Erst wenn wir unsere Arbeit erledigt haben, ist der Zeitpunkt richtig. Ich möchte keine Touristenattraktion werden und ihn am Nachmittag um zwei oder vier Uhr machen." Dafür hat sie jetzt auch gar keine Zeit, denn die Tiere müssen in den Stall gebracht und gemolken werden. „Chomm wädli, wädli", ruft Mina den Kühen auf der Wiese zu – und schon kommen sie freudig angesprungen. Die Zeit muss also stimmen für den Alpsegen.
Und der Ort. Was gesungen wird, zählt in den Alpen doppelt – aber nur, wenn der Ton vom Gestein zurückgeworfen wird. Das Echo bestätigt den Segen. „Wir haben hier viel Wald, er schluckt den Schall." erklärt Mina, die dem Echo nicht so viel Bedeutung beimisst. Wichtig ist ihr nicht das Gestein, das das Echo zurückwirft, sondern jenes, auf dem sie beim Singen steht. Es ist ein ordentlicher Brocken, der etwas erhöht in der Wiese neben dem Haus liegt.
Die Sonne schickt die letzten Strahlen ins Tal und legt einen Zauber in die Luft. Mina steigt auf den Stein. Aufrecht, die Brust offen, das Herz gen Himmel gerichtet. Mit einem tiefen Atemzug bringt sie den Holztrichter vor ihren Mund. „Ave Maria, es walte Gott und Maria." Im Tal ist es mucksmäuschenstill. „B’hüets Gott und de hällig Sant Sebaschtia, dass ösem Vech ke G’söcht und ke Chranked schade cha." Der Gesang packt in der Abenddämmerung alles ein.
Es scheint, als ob sich ein Schutzbann im Gebiet ausbreitet. Beim Zuhören läuft einem ein zarter Schauer über den Rücken. So muss es sich anfühlen, wenn man die eigene Existenz als Teil eines großen Ganzen erfährt. Nochmals nimmt Mina tief Luft und zäuerlet. Es ist ein Zeichen der Freude, das jeden Betruf beschließt. Kaum hat sie ihre Arme gesenkt, ertönt ein freudiges Jauchzen von der anderen Talseite. Dort stehen die Nachbarn jeden Abend bereit, warten auf den Alpsegen – und zäuerlen als Dankeschön zurück. Minas Betruf hat funktioniert: Das Echo bestätigt den Segen.