Die Cristallinahütte im Tessin
Foto: Madlaina Walther
Hoch über dem Val Bedretto, nur einen Katzensprung entfernt von der italienischen Grenze, liegt die Cristallinahütte. Ein moderner Stützpunkt für Tiefschneetouren, geführt mit der richtigen Dosis an Genuss – typisch Tessin eben.
Uta De Monte aus dem Bergwelten Magazin Dezember 2019/Jänner 2020 für die Schweiz
Da ist sie wieder – die Gewissheit, im Tessin zu sein. Sie tanzt auf den gleißenden Sonnenstrahlen daher, wärmt das Herz und treibt beim Laufen den Schweiß auf die Stirn. Den Gästen der Cristallinahütte flüstert sie ganz leise ins Ohr: „Ihr seid Italien schon sehr nahe.“
Wer aber die Augen öffnet und sich auf der Hüttenterrasse umblickt, sieht keinen Sandstrand, sondern ganz viel Schnee. Und statt eines topfebenen Meeresspiegels einen von unzähligen Gipfeln gezackten Horizont, der sich messerscharf vom klaren Blau des Himmels abhebt.
Die auf 2.572 Metern gelegene Cristallinahütte fügt sich dank ihrer gelungenen Architektur perfekt in ihre alpine Umgebung ein. Ein kompromissloser Quader, dessen Betonfundament von einer Mauer aus lokalem Gestein kaschiert wird.
Die filigran wirkende Holzfassade hat sich durch die unweigerliche Verwitterung farblich bereits bestens an ihren Standort am Cristallinapass angepasst. Und das Flachdach des zweistöckigen, langgezogenen Hauses deutet mit seiner respektvollen Duckposition bereits darauf hin, welche Urgewalten die Natur hier oben bereithält.
Dieser Eindruck täuscht nicht, sondern wird von der Hüttengeschichte bestätigt. Die Cristallinahütte wurde 1942 mit dem Ziel eröffnet, die Tessiner Bergwelt auch im Winter gut zugänglich zu machen.
Doch genau diese Bergwelt schlug erbarmungslos zu: 1986 und 1999 zerstörten Schneelawinen große Teile der ursprünglichen Hütte. Sie war damals deutlich kleiner und urchiger und befand sich wenige hundert Meter unterhalb des heutigen Standorts.
Noch im selben Jahr des zweiten Lawinenabgangs startete der SAC einen Architekturwettbewerb und vergab den Neubau an das Tessiner Architektenduo Nicola Baserga und Christian Mozzetti. Die 2002 eröffnete, fast avantgardistisch anmutende Capanna Cristallina ist seither die höchstgelegene und größte SAC-Hütte des Tessins.
Seit Dezember 2018 wird sie von Emanuele Vellati geführt. Wohlgemerkt: nur von ihm. Wenn an sonnigen Winterwochenenden um die 70 Skitourengeher hier eintreffen, holt sich Manu schon mal Hilfe aus dem Tal – sonst aber wuselt der vife 36-Jährige den ganzen Winter über zwischen Skikeller, Trocken- und Technikraum, Großküche und Gästezimmern hin und her.
Von halb sechs in der Früh bis spät in den Abend hält er die Hütte ordentlich in Schuss. Manu bedient seine Gäste, nimmt sich Zeit zum Plaudern und erfreut sich an den Erzählungen der Tourengeher. Er schwingt vormittags das Bügeleisen, nachmittags den Kochlöffel und stellt obendrein sicher, dass seine Gäste rund ums Jahr warm duschen können.
Und das Schönste daran: Er tut all das mit einem solch charmanten Funkeln in den Augen und einem derart spitzbübisch-verschmitzten Lächeln auf den Lippen, dass seine Leidenschaft für den Beruf als ehrliche Lebensfreude auf die Gäste überspringt. Jeden Abend verwöhnt der gelernte Koch die Bergsportler mit einem Drei-Gänge-Menü, das durch Frische, Kreativität und Vielseitigkeit überzeugt.
Seine Karottensuppe schmeckt wie direkt aus dem Garten geerntet, seine Quiche verführt auf vegetarische Weise, sein Brasato weckt südländische Lebenslust. Und wo Leidenschaft im Spiel ist, hat das Gewöhnliche keinen Platz: Jeder Tisch bekommt dazu beispielsweise eine Platte selbst gemachter Tortellini di Patate und Bruschetta.
Als Nachtisch reicht Emanuele schließlich, was die Küche sonst noch so hergibt – das können auch mal sonnengereifte Kiwis vom Anwesen seines Großvaters in Norditalien sein.
Darf es mehr alpiner Luxus sein?
Manus Menüs erzählen also ein bisschen die Geschichte seines Lebens. Geboren und aufgewachsen ist er in Italien, er verbrachte aber viele Jahre in Frankreich und war zuletzt zwei Jahre im Refuge des Cosmiques im Mont-Blanc-Massiv tätig. «Ich koche eben, was ich kenn und was ich kann», fasst es der Italiener in aller Bescheidenheit zusammen.
Dass er Ende des Jahres 2018 auf der Cristallinahütte gelandet ist, sei einerseits ein spontaner Zufall gewesen, andererseits auch eine bewusste Entscheidung. Quasi über Nacht reichte er seine Bewerbung ein, nachdem er die Stellenanzeige entdeckt hatte.
Innerhalb weniger Tage bekam er einen Anruf und bald darauf die Zusage von den Tessiner SAC-Verantwortlichen. Heute fühlt sich Emanuele Vellati im Bedrettotal, dem alpinen Norden des Tessins, zu Hause. Am liebsten aber verbringt er seine Tage auf dem Cristallinapass und steigt nur ab in das Tal, wenn es wirklich notwendig ist.
«Ich spule ja hier in der Hütte schon täglich mehrere Kilometer ab», witzelt er mit einem Schulterzucken, «und es gibt immer was zu tun.» Und neben dem Tagesgeschäft reifen natürlich auch einige Projekte in Vellatis Kopf: «Ich möchte die Hütte noch komfortabler gestalten, Doppelzimmer einbauen und vielleicht eine Sauna dazu.»
Es sind ehrgeizige Ziele, die aber im Trend liegen, da ist er überzeugt. Die Nachfrage nach Doppelzimmern sei in jedem Fall da, und viele Gäste seien für eine Art alpinen Luxus auf über 2.500 Metern schnell zu begeistern. Insgesamt 16 gepflegte Schlafräume mit 4-, 8- und 12-Bett-Zimmern stehen derzeit für bis zu 120 Gäste bereit.
Die Hütte ist das ganze Jahr über geöffnet – durchgehend bewirtschaftet wird sie von Ende Juni bis Mitte Oktober. Im Sommer führt die anspruchsvolle Trekkingroute Via Alta Idra hier vorbei, doch auch Familien kommen für eine oder mehrere Nächte auf die Hütte, beispielsweise auf einer Rundwanderung um den Cristallina.
Im Winter finden sich, vor allem am Wochenende und bei guten Schneeverhältnissen, viele Tourengeher in der Hütte ein. Und zwar auch in schneeärmeren Wintern: Das Gebiet gilt als sicheres Paradies mit vielseitigen Möglichkeiten. Gute Chancen auf Pulverschnee hat man etwa in den Hängen direkt nördlich der Hütte, aber auch auf der Tagestour zum Rifugio Maria Luisa im nahen Italien.
Wenn abends die zackige Horizontlinie der Gipfel langsam in der einbrechenden Dunkelheit verschwimmt und sich eine eisige Kälte zwischen den schneebedeckten Bergflanken ausbreitet, treffen sich die Gäste gerne im großen und modernen Speiseraum. Die schlichte Einrichtung und die vielen Fenster lenken den Blick permanent auf die imposante Bergwelt der Umgebung, vor allem auf den vergletscherten Basòdino (3.272 m).
Und auch die Cima di Lago (2.833 m), nur vier Kilometer von der italienischen Grenze entfernt, grüßt im letzten Abendlicht nochmals durchs Fenster und macht Lust auf einen Besuch am Folgetag.
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