Johann Wilhelm Coaz auf dem Piz Bernina (4.049 m)
Am 13. September 1850 erreichten der 28-jährige Johann Wilhelm Coaz und seine beiden Gehilfen den höchsten Gipfel des schweizerischen Engadins. Weil das heute mit 4.048,6 m vermessene Dach des Kantons Graubünden noch keinen Namen hatte, taufte Coaz es Piz Bernina. Nicht der einzige weiße Fleck auf der Schweizer Landkarte, den der verdienstreiche Alpen-Pionier und Topograph tilgte.
Dass Johann Coaz den „unbezwingbaren“ Piz Bernina erstbestieg, erschien seinen Zeitgenossen wie eine kleine Mondlandung. Am wenigsten konnten es seine Kasino-Kumpeln glauben. Kurz vor seinem Tod erinnert er sich: „Am zweiten Tage nach der Ersteigung begab ich mich nach Samaden und teilte im Kasino meinen Bekannten die stattgefundene Ersteigung des Bernina mit, fand aber nur zweifelndes Lächeln, denn der Bernina gilt als unersteigbar. Erst vor der Ortschaft, da, wo gegenwärtig das Hotel Bernina steht, vermochte ich die Herren von der Ersteigung des Bernina zu überzeugen, indem ich ihnen mit dem Fernrohr die auf der Berninaspitze flatternde Fahne zeigte."
Ehe Coaz am damals noch mit 4.052 m gemessenen höchsten Punkt des Kantons, einem „von keinem menschlichem Wesen betretenen Boden“, stand, musste er einen abenteuerlichen Weg über den spaltenreichen Morteratschgletscher hinter sich bringen. Und ehe der Schweizer Forstingenieur und Gebirgstopograf 1918 in Chur verstarb, konnte er auf ein außergewöhnlich spannendes Leben und insgesamt 21 Erstbesteigungen in den Alpen zurückblicken. Ein Leben, das er mit 17 Jahren in Tagebüchern aufzuzeichnen begann.
Johann Wilhelm Fortunat Coaz wurde 1822 als Sohn eines Berufsoffiziers in Antwerpen geboren. Schon zweijährig zog er mit seiner Familie nach Chur, studierte später an der königlich-sächsischen Forstakademie in Tharandt Forstwirtschaften und wurde auf Empfehlung eines Freundes General Dufour als Berater vorgeschlagen. 1847, während des Sonderbundskriegs, war er dessen Privatsekretär – zudem war Coaz maßgeblich an der Entstehung der „Dufourkarte“, dem ältesten amtlichen Kartenwerk der Schweiz im Maßstab 1:100.000, beteiligt, für die er Vermessungen durchführte.
Während seines Dienstes im Eidgenössischen Topographischen Bureau unter der Leitung Dufours gelangen dem bergsteigerisch begabten Coaz mehrere Erstbesteigungen: Dazu gehörten 1846 der Piz Kesch (3.418 m), im selben Jahr der Piz Lischana (3.105 m) und 1850 eben der über 4.000 m hohe Piz Bernina. Coaz sollte den damals noch namenlosen höchsten Gipfel des Engadins vermessen.
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Spießrutenlauf am „Everest des Engadins“
Die Besteigung begann am 13. September um 6 Uhr morgens beim Gasthof „Bernina Häuser“ auf 2.050 m. Der Morgen war kalt, um die minus 2 Grad. Coaz machte sich mit den beiden Graubündner Messgehilfen und Führern Jon und Lorenz Ragut Tscharner aus dem Domleschg auf den Weg. Sie waren mit genagelten Schuhen, einem Hanfseil, Kopftüchern gegen die Sonneneinwirkung und langen Stecken, mit denen Spalten aufgespürt werden sollten, ausgerüstet. Besonders viele davon gab es im „Labyrinth“ genannten Abschnitt des Morteratschgletschers. Den gefürchteten Eisfall durchquerten die drei Bergkameraden so auch unter großen Schwierigkeiten – und im Bewusstsein der „Lebendigkeit“ des Gletscherriesen. In seinem Tagebuch berichtet Coaz von imposantem Krachen, dem Aufreißen immer neuer Spalten und dem ständigen Einstürzen von Eisstücken in unmittelbarer Nähe.
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Schweizer Fahne am Gipfel
Mutig und mit viel Geschick arbeiteten sich die drei über die Südseite bis zur Achsel vor, wo sie die einzige Verpflegungspause einlegten. An dieser Stelle ließen sie im Anschluss auch all ihr Gepäck liegen, um möglichst leicht über den Grat zum vergletscherten Gipfel hochklettern zu können. Um 18 Uhr, nach 24 zurückgelegten Kilometern und 2.300 bewältigten Höhenmetern, waren die drei am Ziel angelangt. Sie pflanzten eine Schweizer Fahne auf und hinterließen eine Flasche, die mit Bündner Münzen und einem Zettel, auf dem ihre Namen standen, gefüllt war. In seinem Tagebuch notierte Coaz: „Um 6.00 abends standen wir auf der ersehnten erhabenen Spitze auf reinem von keinem menschlichem Wesen betretenen Boden, auf dem höchsten Punkt des Kantons. Ernste Gefühle ergriffen uns. Das gierige Auge schweifte über die Erde bis an den weiten Horizont und tausend und tausend Bergspitzen lagerten sich um uns, felsig aus glänzenden Gletschermeeren emportauchend. Erstaunt und beklemmt sahen wir über diese grossartige Gebirgswelt hin.“
Mit bei Minustemperaturen und kaltem Wind eingefrorenen Stiefel und Beinkleidern nahmen die drei den Abstieg in Angriff. Dem „gnädig gesinnten“ Vollmond war es zu verdanken, dass sie im Labyrinth genug sahen, um den richtigen Weg zwischen den Spalten hinab ins Tal zu finden. Um 2 Uhr nachts, 20 Stunden nach ihrem Aufbruch, kehrten sie heil zum Gasthaus zurück.
Pionier der Nationalparkidee
Den namenlosen Gipfel hatte Coaz nicht nach sich selbst, sondern spontan „Piz Bernina“ getauft. 1922 montierte die Sektion Bernina dort eine Gedenktafel zu Ehren des Bernina-Erstbesteigers und SAC-Ehrenmitglieds Coaz. Acht Jahre nach seinem Tod wurde die 1926 erbaute Coazhütte im Val Roseg nach ihm benannt. Die Eröffnung des Schweizerischen Nationalparks, den er mitersonnen und -begründet hatte, erlebte der große Schweizer Pionier 1914 noch 92-jährig mit großer Genugtuung mit.
Johann Wilhelm Coaz
- Geboren: 31. Mai 1822 in Antwerpen.
- Leben: Schweizer Forstingenieur und Gebirgstopograf, Privatsekretär von General Dufour, Erstbesteiger des Piz Bernina, Oberforstinspektor des Kantons Graubünden (1873-75), erster eidgenössischer Oberforstinspektor (1857-1914), Mitbegründer des Schweizerischen Nationalparks.
- Publikationen: Erstbesteigung des Piz Bernina. Originalbeschreibung von Johann Wilhelm Coaz.
- Zitat: „Um 6.00 abends standen wir auf der ersehnten erhabenen Spitze auf reinem, von keinem menschlichem Wesen betretenen Boden, auf dem höchsten Punkt des Kantons 4052 M.ü.M.“
Piz Bernina
- Höhe: 4.048,6 m
- Erstbesteigung: 13. September 1850
- Gebirge: Berninagruppe
- Kanton: Graubünden
- Gipfel: Der Berg besteht aus drei Gipfeln, deren mittlerer der höchste ist. Der Nordgipfel ist Endpunkt des firnigen Teils des Nordgrats (Biancograt, romanisch: Crast' Alva), der oft als der schönste Eisgrat der Alpen bezeichnet wird.