Die Dolomitenhütte in Osttirol
Foto: Ramona Waldner
Keine typische Hüttenwirtin, keine typische Berghütte: Scarlett Olesova hat ein Rundum-sorglos-Refugium geschaffen, in dem sich von bergverrückten Einheimischen bis hin zu weit angereisten Dolomitenfans alle wohlfühlen.
Dominik Prantl für das Bergwelten Magazin Dezember/Jänner 2018/19
Als die Slowakin Scarlett Olesova noch zur Schule ging, so sagt sie, habe sie immer das gleiche Bild gemalt. Sie war keine große Zeichnerin; ihr Metier war schon damals eher der Sport. Die Wahrheit ist sogar: „Ich konnte nur dieses eine Bild malen.“ Das sah so aus: ein Hügel, viele Bäume und ein Haus darauf. „Ich habe immer eine Eins dafür bekommen.“
Heute besitzt Scarlett Olesova ihre eigene Hütte. Diese thront adlerhorstverdächtig auf 1.616 Metern zwischen Bäumen auf einem gewaltigen Felsriegel, direkt darunter ein Klettergarten, im Süden die Felszacken der Lienzer Dolomiten, so wuchtig, rau und schön, wie es nur die Dolomiten sein können. Irgendwie ist es Scarlett gelungen, ihr Gemälde vom Papier auf die Wirklichkeit zu übertragen.
Weil sich die Gegenwart der Dolomitenhütte, geprägt von Wildspezialitäten, Nachtrodeln und Doppelzimmern mit Panoramafenstern, leichter über ihre Geschichte begreifen lässt, ein Blick in die Annalen: Die reichen bis 1936 zurück, als der einstige Pächter der noch näher an den Felszacken gelegenen Karlsbader Hütte die Dolomitenhütte errichtete. Bis in die Fünfzigerjahre war diese allein über einen steilen Steig erreichbar und nur im Winter bewirtschaftet.
Die Wirte wechselten – nicht oft, aber namenlos –, ehe Hans Wibmer das Gebäude 1989 übernahm und bis 2007 führte. Und hier tritt nun die junge Scarlett auf den Plan. Als sie im Juni 2007 an der alten Dolomitenhütte – „kleine Fenster, gusseiserner Ofen, dunkel“ – vorbeikam und der Wirt erzählte, er wolle das Gebäude verkaufen, war es um Scarlett endgültig geschehen. Sie alarmierte ihren Bruder Juraj, ob er sich das als Miteigentümer vorstellen könnte: Hüttenbesitzer in Osttirol? Im August hatte sie ihren Job gekündigt, im September war sie nach Osttirol gezogen. Ein irrer Plan.
Die Welt von Osttirol
An dieser Stelle muss man ein Wort über die Region verlieren, in der die Dolomitenhütte steht. In Osttirol sind die Menschen womöglich noch etwas konservativer und bergverrückter als in Südtirol oder Nordtirol, wo wahrlich kein Mangel an Konservativen und Bergverrückten herrscht. In diese Welt also zog es Scarlett Olesova. Nun entspricht sie schon qua Geschlecht nicht so wirklich dem Idealtypus eines Hüttenwirts.
Sie ist auch kein langhaariger Alpinkletterer der neunten Generation mit Maurerhänden und einem Dialekt, den außer dem Steilwand-Schorschi und dem Eiskletter-Hansi vielleicht noch 23 andere Menschen im Tal sprechen.
Sie ist eine ehemalige Leistungsturnerin aus wohlhabendem Haus, und das auch noch aus der Slowakei. Bei aller Liebe, das geht wirklich nicht. Und wie das geht! Nur halt nicht so einfach. Wobei die Funktionstüchtigkeit etwas später in die Hütte einzog als die entschlussfreudige Scarlett. Die habe die Einheimischen anfangs ja gar nicht verstanden, wenn diese zum Beispiel einen „Graukas“ bestellten.
Im ersten Winter, noch vor dem Umbau, türmte der von Heimweh geplagte Koch am ersten Weihnachtstag und kam nicht mehr zurück. Also stellte sich Bruder Juraj in die Küche, mit Headset, damit die Mama die Gerichte übers Telefon erklären konnte. Früher, so wird erzählt, hätten die Einheimischen immer wieder einmal über das Essen gemault, heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, bei handgemachten Osttiroler Schlipfkrapfen, Grillwurst vom Tauernhirsch oder der opulenten Flammkuchenauswahl.
Man kann sich überhaupt schwer vorstellen, wie die Hütte einmal ausgesehen haben muss. Nur die tragenden Säulen blieben erhalten, ansonsten – ob Kamin, Treppenhaus, Zimmer, Fenster, Außenverkleidung – alles neu. Fragt man Scarlett, wie viel das neue Hütten-Antlitz inklusive des neuen Innenlebens im Jahr 2008 gekostet habe, sagt sie nur: sehr viel.
19 Betten, verteilt auf 8 Zimmer, blieben nach dem Umbau, eher wenig für eine Hütte, Scarlett ist das schon klar: „Ich weiß aber nicht, ob mehr immer gut ist.“ Tatsächlich habe sie der Hütte zu Beginn auch einen anderen Namen geben wollen, weil sich im Zeitalter von Tripadvisor jeder zweitklassige Holzverschlag mindestens als Chalet, wenn nicht gleich als Lodge verkauft. Aber letztlich hieß sie schon seit 70 Jahren so, Dolomitenhütte.
Eine Hütte umtaufen? „Du kannst deine Frau auch nicht einfach Steffi nennen, wenn sie eigentlich Julia heißt.“ Egal aber ob Hütte oder Lodge, Steffi oder Julia, Hauptsache man verliebt sich. Das Schöne an dem Ort ist jedenfalls, dass sich vom After-Work-Abenteurer bis zum Extrembergsteiger keiner ausgeschlossen fühlen muss.
Das Gebäude präsentiert sich sozusagen als Rundum-sorglos-Refugium. „Sport, Ernährung und Natur; diese drei Themen waren mir wichtig“, sagt Scarlett.
Ihr Heim ist genauso ein Anlaufpunkt für die von weit her Angereisten mit ihren Jack-Wolfskin-Wanderhemden wie auch für die langhaarigen Einheimischen mit Maurerhänden. In der Hütte kann man Klettersteigzubehör kaufen, um einen der sechs Klettersteige in der Umgebung zu begehen; zu leihen gibt es E-Bikes, Tourenski und Schlitten.
Denn auch wenn die Dolomiten-Topografie allerlei Wände, Törl und Jöcher zur Verfügung stellt, werden im Umkreis keineswegs nur knackige Skitouren und alpine Klettereien geboten. Neben einer präparierten Piste ohne Lift führt auch eine Rodelbahn hinunter ins Tal. Die Rodelbahn gab es zwar schon lange vor Scarlett, nur eben keine Leihschlitten auf der Hütte, erst recht keine, die mit Scheinwerfern ausgestattet sind.
Nicht einmal die Dunkelheit beendet den Spaß. Das gilt vor allem bei Vollmond. Speziell oben auf der Weißsteinalm (1.750 m) verwandelt er die Konturen des Winters in die Schemen der Nacht. Der Ort liegt nur einen halbstündigen Anstieg auf Tourenski oder Schneeschuhen durch nahezu waldloses Gelände von der Dolomitenhütte entfernt und entführt doch in eine andere Welt.
Wenn der Mond langsam im Osten über die Bergkuppen spitzt und die nackten Felsen der Lienzer Dolomiten in ein sagenhaftes Licht taucht, ist man sich sicher, dass man unbedingt öfter bei Vollmond auf Berge steigen sollte. Zum Frühstück tags darauf gibt es jedenfalls so viel Obst, Lachs und verschiedene Sorten Wurst und Käse, dass es auch für die Vollmondtouren eines ganzen Winters satt machen würde.
Und der ältere Herr da drüben ist sicher der chronisch nörgelnde Oberstudienrat, der erst beim Blick in die Dolomiten, auf die Gamswiesenspitze und den Simonskopf, den Seekofel und den Roten Turm langsam zu lächeln beginnt. Und dem am Ende doch nichts anderes übrig bleibt, als Scarlett für ihr Kunstwerk wieder eine Eins ins Notizbuch einzutragen.
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