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Die Hohen Munde

Regionen

8 Min.

08.11.2021

Foto: Andreas Jakwerth

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Ein gekaufter Berg und ein Bilderrahmen im Wald. Großes Theater am Gipfel und chinesische Mauern in Tirol. Eine Verabredung mit der Hohen Munde zum Wandern und Klettern.

Werner Jessner für das Bergweltenmagazin März 2017

Ein weiblicher Berg verlangt selbstredend nach ebensolcher Gesellschaft. Pünktlich um sechs Uhr in der Früh treffen wir Sabine, Lisa und Niki am Moos-Parkplatz in Leutasch. Vor allem Wanderführerin Sabine Müller hatte auf den zeitigen Start bestanden.

Die Hohe Munde trägt ihren Namen zu Recht: 2.592 Meter hoch ist der Ostgipfel, 2.662 Meter der Westgipfel. Der Berg, der aus dem Inntal so mächtig aussieht, ist ein echter Wanderberg, ein Berg, für den du zwar Kondition und Koordination brauchst, aber keine speziellen Fähigkeiten sonst.

Gut und gern 1.800 Höhenmeter werden wir in den nächsten acht Stunden hinter uns bringen. Was dazukommt: Bei der Überschreitung der Hohen Munde von Ost nach West bist du der Sonne ziemlich ausgesetzt, hat Sabine einst im Zuge der Vorbereitungen gesagt, und ab der Rauthhütte auf 1.605 Metern gibt es keinen Tropfen Wasser mehr.

Vorerst ist davon aber noch wenig zu spüren, denn der Anfang über die moorähnlichen Katzenlöcher ist erstens sehr gemütlich und zweitens sehr feucht. Bretter liegen über den moosigsten Stellen.

Wolfgang Pfeifer, der mit seiner Frau Maria die Pension „Aufatmen“ betreibt und den wir am Vortag zu einer dreistündigen „Mental Power Trail“-Wanderung getroffen haben, erklärt den Namensursprung der Katzenlöcher so: Hier habe man einst Raubkatzen – die auf ihrem Weg ins Inntal den einfachsten und niedrigsten Übergang gewählt hatten – gefangen, bevor sie der Bevölkerung lästig werden konnten.

Wolfgang kombiniert Meditation und Yoga mit der Ruhe der Natur. Unterwegs wird nicht geredet. Es ist die Natur, die in der Stille mit dir und zu dir spricht, wenn du sie lässt.

Wolfgang führt die Teilnehmer bei seinen Ausflügen gezielt an Plätze im Wald, die zum Nachdenken einladen. Manche sind von der Natur geschaffen, bei anderen hat er ein wenig nachgeholfen. Da hängt ein Bilderrahmen im Wald: Was macht er mit dir? Was siehst du in ihm? Wo siehst du dich? Engt er deinen Blick ein, oder fokussiert er ihn?

Es sind Fragen wie diese, die Wolfgang stellt, und jeder mag darauf seine Antwort finden oder an der Fragestellung wachsen: „Besonders gut funktioniert das bei Schlechtwetter. Da bekommt das Gehen im Wald eine eigene, fast mystische Qualität.“

Der Esoterik-Alarm geht aber trotzdem nicht los, denn Wolfgang ist im Grunde ein erdiger Leutascher, der viel von der Welt gesehen hat, bevor er daheim die Pension übernommen und umgebaut hat, und jene Gedanken, die er draußen aufgesammelt hat, gern an andere weitergibt, in hinreißendem Ambiente selbstredend.

Tibetische Gebetsflaggen und Buddhastatuen haben in seiner Welt problemlos neben dem Kruzifix Platz. „Es ist eine höhere Macht da draußen, unabhängig von Organisationen, und die spürst du auf unseren Wanderungen ganz stark.“


Die Munde und das Wasser

Schön gesagt, doch wir spüren momentan vor allem die Oberschenkel, der Weg auf die Munde führt zuerst einmal zur Rauthhütte, die Andreas Rauth in dritter Generation bewirtschaftet. Ihr müsst nicht anrufen, haben sie gesagt, er ist ohnehin da.

Die Rauthhütte ist das letzte feste Gebäude am Aufstieg zum Ostgipfel, zum Mundekopf. Ab hier wird es alpin, später hochalpin.

Andreas Rauth und sein leichtes Bäuchlein haben in den letzten Jahrzehnten alles gesehen, was man sehen will, und einiges davon ist auf Bildern in der Gaststube zu sehen: Schnee, der so hoch liegt, dass der gesamte Latschengürtel verdeckt ist, 12 Meter plus; die Hohe Munde ist eine Schneeschleuder, unberechenbar.

Im Sommer aber ist die Rauthhütte eher ein gemütlicher Wanderstopp, der auch von ungeübten und weniger trainierten Menschen erreichbar ist, und sie belohnen sich dann dort völlig zu Recht mit gutem Essen. Wer jedoch weiter rauf will und zu spät dran ist, dem redet Andreas Rauth dienstlich ins Gewissen: „Es sind von hier aus halt doch noch 1.000 Höhenmeter rauf zum Mundekopf. Unterschätzen soll man das nicht.“

Er rät auch jedem, ordentlich zu trinken. Nicht um ein Geschäft zu machen, sondern weil er diesen Berg kennt: „Die Munde ist im Inneren aufgebaut wie ein V: Sie sauft das Wasser und lässt es erst ganz unten bei den Telfern wieder raus. An der Oberfläche ist nichts. Es gibt keine Quellen. Sogar für meinen Hausbrunnen, der uns eher schlecht als recht versorgt, mussten wir über 70 Meter tief bohren.

Der Weg, den das Wasser nimmt, ist rätselhaft. Lottensee und Wildmoossee tauchen nur alle paar Jahre auf – da brauchst du dann ein Boot. Während der nächsten Jahre aber liegt es auf dem Trockenen, und alle lachen. Bis die Munde den See wieder speist.“

Wir nehmen seinen Rat an und tanken voll. Noch sind die Temperaturen angenehm, da der Latschengürtel erstens Feuchtigkeit speichert und zweitens Teilschatten spendet. Je höher es geht, desto wichtiger wird die Sonnencreme. Über 2.000 Meter Seehöhe geben die letzten Latschen auf, die Vegetation verändert sich. Astern, Teufelskralle, Alpenrosen, zwischendurch stinkt ein wenig Speik, und dann natürlich jede Menge Edelweiß, direkt neben dem Weg. Lästig beinahe. Nur nicht reintreten!

Auffällige Abwesende hingegen: Murmeltiere. Hier gibt es sie nicht. Selbst Versuche, sie anzusiedeln, erzählt Wanderführerin Sabine, seien vergeblich gewesen, da in dieser Art von Wettersteinkalk sogar das stärkste Murmeltier beim Graben scheitert.

Nicht hingegen der Mensch, der in den letzten Jahren die Südflanke mit Lawinenverbauungen gesichert hat, zum Wohle und zur Sicherheit von Telfs.


Tauschhandel mit dem Gipfel

Die Telfer haben am 22. Mai 1998 stolz jene Tauschurkunde unterschrieben und mit einer 180-Schilling-Stempelmarke vergebührt, die ihren Hausberg endlich zum Gemeindeeigentum machte. Im Gegenzug wanderte diverser Streubesitz in die Hände der Österreichischen Bundesforste.

Historischer Hintergrund: Joseph II. hatte einst die Berggipfel der Monarchie verstaatlicht, da kein Grundherr und schon gar kein armer Bergbauer gewillt war, Steuer für die wirtschaftlich recht wertlosen, flächenmäßig jedoch großen und deshalb teuren Berggipfel zu zahlen. Die Telfer hingegen wollten, dass ihre Munde, die sie täglich sehen, ihnen auch tatsächlich gehört, ungeachtet der finanziellen Implikationen. So viel Liebe zu einem Berg ist selten.

Die Telfer schätzen die Lawinenverbauung am Ostgipfel natürlich, denn das eine oder andere Grundstück liegt seither nicht mehr in der gefährdeten Zone.

Für den Bergsteiger bedeutet das: Wenn du die unterste Sperre der Lawinenverbauung erreichst, ist der 2.592 Meter hohe Ostgipfel nicht mehr weit. Bist du endlich oben, nach guten drei Stunden Aufstieg, ist der Blick spektakulär, der Gipfel selbst jedoch eher weniger.

Ein Plateau, nicht mehr. Groß genug, um Theater zu spielen. Felix Mitterers Stück „Munde“ wurde 1990 hier aufgeführt, von den geplanten 17 Vorführungen konnten aber nur acht tatsächlich stattfinden. Der Rest fiel dem Wetter zum Opfer – Gewitter, Hagel und Donner inklusive.

Die Hohe Munde ist ein Wetterberg, das wurde Organisatoren, Publikum und Schauspielern – darunter einem jungen Tobias Moretti – eindrücklich klar. Die Helfer im Hintergrund, die aus der Gegend rekrutiert worden waren, hatten das schon vorher gewusst. Immerhin liefert die Munde selbst verlässliche Hinweise, folgt man alten Weisheiten: „Håt die Munde an Huet, weard’s Wetter guet, håt sie a Schwert, isch’s Wetter nix wert, håt sie an Sabl, weard’s Wetter miserabel.“

Im Gespräch mit Einheimischen kommt das Gespräch unweigerlich auf Mitterer und das Stück „Munde“. Selbst Jahrzehnte danach ist das Stück noch identitätsstiftend für die Region, vor allem aufgrund der dramatischen Umstände, unter denen es aufgeführt wurde.

Ebenfalls ein kultureller Fixstern in der Region ist der Schriftsteller Ludwig Ganghofer, dem man ein eigenes Museum gewidmet hat, die ehemalige Volksschule im Leutascher Ortsteil Kirchplatzl. Ganghofer war Liebkind des deutschen Kaisers und hatte in Leutasch sein Jagdhaus, wo es durchaus deftig zuging, wie die rührige Leiterin Iris Krug erzählt.

Wir halten uns nicht zu lange am Ostgipfel auf, denn Sabine drängt zum Weitergehen. Wir steigen ab, um uns zum Westgipfel mit seinen 2.662 Metern vorzuarbeiten, und tauschen 100 Bergab- gegen 200 weitere Bergaufmeter und einen Blick, der von der Zugspitze bis ins Italienische, vom Arlberg bis zum Karwendel reicht.

Diese gewaltige Aussicht ist einer der Gründe, warum sich der Aufstieg auf die Munde lohnt. Zeit für eine Gipfeljause und eine weitere Anekdote, nämlich jene vom Gipfelkreuz. Ein solches gab es nämlich die längste Zeit nicht, sondern einzig eine eiserne Fahne, drei Meter hoch, eineinhalb Meter breit, 130 Kilo schwer, am 14. August 1898 von 19 Männern des Radfahrvereins Telfs am Gipfel aufgestellt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg pflanzten französische Besatzungssoldaten an dieser Stelle die Tricolore ein, die aber der Briefträger Rudolf Agerer, vulgo Studl Rudl, im Sommer 1947 stahl. Außerdem flauchte er den Franzosen ein paar Stangen Sprengstoff, der verwendet wurde, um ein Loch für das Fundament des Gipfelkreuzes zu sprengen. Dies alles war bekannt, die französische Fahne aber entdeckte man erst nach Rudolfs Tod – unter seiner Matratze.

Genug der wilden Geschichten – volle Konzentration ist angesagt. Der Abstieg vom Westgipfel zur Niederen Munde ist keine Kleinigkeit, sondern ein schwarz markierter Steig, Trittsicherheit sollte man an dieser Stelle jedenfalls mitbringen.

Dass Sabine, die jeden Gipfel hier wie das einzige Fach ihres gewichtsarmen Laufrucksacks kennt, mit leichten Trekkingschuhen rumturnt, erklärt sie uns mit dem besseren Gefühl für den Untergrund.

Immer wieder kommen uns Gruppen entgegen, die die Hohe Munde in Gegenrichtung – also von West nach Ost – überschreiten. Sabine empfiehlt aber unsere Route: Der Aufstieg zum Ostgipfel sei zwar heiß, der karge Westrücken ohne optische Anhaltspunkte hingegen psychologisch anstrengender. Und zum Schluss komme dann noch der Klettersteig, der auch bergab zwei Stunden Zeit brauche, selbst wenn man nicht hudelt.

Weil hudeln, das ist dem Kletterer fremd. Es gibt rund um den Berg zwei attraktive Klettergebiete: am Fuße der Munde in der Arzbergklamm; und gegenüber im Wettersteingebirge die „Chinesische Mauer“, wo wir die Tage mit den Mitgliedern der Klettergruppe „Mauerfix“ (für Nichttiroler: „Mauerfüchse“) unterwegs waren.

Patti Trois, im zivilen Leben Küchenchef im Restaurant „Dorfkrug“ in Telfs-Mösern, ist in der Wand ein Leiser, ein Lustiger, einer, dem du alles glaubst, was er dir über seine Heim-Wände erzählt. Alles andere wäre auch vermessen, denn eine 7a auf der bis 9b reichenden Schwierigkeitsskala rennt er quasi hinauf, genau wie Maria Wibmer auf unseren Bildern. Aber davon macht man nicht viel Aufhebens, das Niveau ist einfach verdammt hoch, außerdem pusht man sich gegenseitig. „Und was willst du denn sonst machen zwischen Mittag- und Abendessen kochen, außer zu klettern?!“, fragt der Küchenchef.

Ab der Niederen Munde wird das Terrain wieder einfach, die Latschen kommen zurück. Unter uns liegt das Gaistal, das das Wetterstein- vom Mieminger Gebirge trennt. Man kann auch sagen: Hier treffen sich die Mountainbiker aus Österreich mit jenen aus Deutschland auf eine Buttermilch und ein Kiachl mit Preiselbeeren.

Woher der Name Gaistal stammt, ist klar – oder doch nicht? Für solche Fragen ist Hansi Bantl zuständig, pensionierter Jäger und wandelndes Regionallexikon. Er kichert. „Mit der Goaß hat das gar nichts zu tun. Der Name leitet sich vom Geiz her, vom Nichtshaben. Im Gaistal hat es kaum Wild gegeben, so ist der Name zustande gekommen.“ Aha.

Und warum heißt die Hohe Munde so, wie sie heißt. „Da gibt es zwei Herleitungen. Die einen sagen, der Name stamme vom dolomitenladinischen Ausdruck für Alm, ‚Munt‘. Die anderen leiten ihn schlicht von ‚mons/montis‘ ab, dem lateinischen Wort für Berg.“ Und warum ist der Berg Munde weiblich? „Vielleicht weil sie so unberechenbar ist, wettermäßig“, grinst er unter seinem Hut hervor. Ob man das glauben soll?

Nach kaum acht Stunden haben wir die Ache erreicht und hängen die dampfenden Füße ins kalte Wasser, nicht ohne zuvor ein, zwei Schlucke getrunken zu haben, von denen jeder einem Kamel zur Ehre gereicht hätte. Die Wasservorräte sind nun aufgebraucht.
Der Rest des Tages ist ein Spaziergang: auf der Forststraße eine letzte hatscherte Stunde lang raus bis in die Leutasch. Nie hat das Knödel-Tris im Sporthotel Xander besser geschmeckt.

Am nächsten Tag verhüllt dichter Nebel die Munde. Nur die eingetrockneten Salzränder am T-Shirt erinnern daran, dass wir tatsächlich oben waren.


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